Charlotte Salomon, Leben? oder Theater?: aus den Fugen geratene Zeit und Welt

Charlotte Salomon
Charlotte Salomon, Gouachen aus „Leben? oder Theater?“, 1940-1942, Sammlung Jüdisches Museum Amsterdam, © Charlotte Salomon Foundation
Review > München > Städtische Galerie im Lenbachhaus
29. Mai 2023
Text: Bettina Krogemann

Charlotte Salomon: Leben? oder Theater?
Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, Luisenstr. 33, München.
Montag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 10. September 2023.
www.lenbachhaus.de
Alle Seiten aus „Leben? oder Theater?“ unter https://charlotte.kck.nl

Charlotte Salomon
Charlotte Salomon, Gouachen aus „Leben? oder Theater?“, 1940-1942, Sammlung Jüdisches Museum Amsterdam, © Charlotte Salomon Foundation
Charlotte Salomon
Charlotte Salomon, Gouachen aus „Leben? oder Theater?“, 1940-1942, Sammlung Jüdisches Museum Amsterdam, © Charlotte Salomon Foundation
Charlotte Salomon
Charlotte Salomon, Gouachen aus „Leben? oder Theater?“, 1940-1942, Sammlung Jüdisches Museum Amsterdam, © Charlotte Salomon Foundation

Das Münchner Lenbachhaus zeigt Charlotte Salomons Singespiel „Leben? oder TheateSie sind wie ein Ausstellungsparcours in Szene gesetzt. 769 Blätter aus Charlotte Salomons so genanntem „Singespiel“, Gouachen, Textzeilen und dramaturgische Anmerkungen, sind jetzt im Kunstbau des Lenbachhaus zu sehen. Dieses „Singespiel“, entstanden innerhalb von zwei Jahren nach Charlotte Salomons Flucht aus Berlin im Jahr 1939, trägt den Titel „Leben? oder Theater?“. Die Blätter, es sind insgesamt 1.000, überdauerten den Holocaust und gehören seit 1971 zum Bestand des Jüdischen Museum in Amsterdam, das dieses Konvolut verwaltet und wissenschaftlich aufarbeitet. In den Zeichnungen hat Charlotte Salomon (1917-1943), einst Kunststudentin in Berlin, bis 1942 die unglücklichen Geschicke ihrer Familie und die verzerrte Welt der Nazi-Herrschaft dargestellt.

Ihr Vater, der Chirurg Albert Salomon, wurde vom Dienst entbunden, Künstler der Familie erhielten Auftrittsverbot und Charlotte Salomon verließ nach Schikanen im Jahr 1937 die Kunsthochschule in Berlin. 1939 flüchtete sie in das französische Villefranche-sur-Mer zu ihren Großeltern, später zogen alle gemeinsam nach Nizza, wo die Großmutter sich das Leben nahm. Ihr Vater und dessen zweite Frau gingen hingegen in die Niederlande und überlebten dort. Unter dem Vichy-Regime werden Charlotte Salomon und ihr Großvater im französischen Lager in Gurs interniert. Beide kehren nach der Entlassung nach Nizza zurück. Die Unsicherheit und die Zukunft einer permanent bedrohten Existenz lasteten sehr stark auf ihr. Auf Anraten ihres Arztes nahm sie die Malerei wieder auf und schuf ganz zurückgezogen und isoliert eine eigene Kunstwelt, das riesige Konvolut „Leben? oder Theater?“. Das übergab sie dann ihren Eltern zur Aufbewahrung und so konnte es die Zeitläufte überleben. Schon im November des Jahres 1942 besetzte die deutsche Wehrmacht schließlich auch Südfrankreich. Im Juni 1943 hatte Charlotte Salomon den österreichischen Emigranten Alexander Nagler geheiratet. Beide wurden im September des Jahres in Nizza verhaftet und schließlich in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Die junge Salomon, im fünften Monat schwanger, wurde wohl am Tag ihrer Ankunft ermordet, ihr Mann Alexander Nagler starb im Januar 1944 an den Folgen der Inhaftierung.
„Leben? oder Theater?“ ist ein herausragendes und beeindruckendes künstlerisches Werk des 20. Jahrhunderts. Salomon hatte einen gattungsübergreifenden Ansatz und wies in ihren Bildwelten immer reiche Bezüge zur Kunst, aber auch zu Film, Musik und Philosophie ihrer Zeit auf. Stilistisch und im Duktus stehen ihre Zeichnungen der Kunst des Expressionismus nahe, aber auch den fantasievollen Kompositionen eines Marc Chagalls. Jede Zeichnung ist nummeriert, die Erzählstruktur kann so einfach im Sinne Salomons rekonstruiert werden. Farben trug sie flächig auf, mit dunklen Linien gab sie den Figuren Kontur. Es sind innovative und kraftvolle Bildfindungen. Dabei ist das Format handlich, alle Blätter sind jeweils 32,5 x 25 Zentimeter groß. Zusammen mit erläuternden Texten und Hinweisen auf Musikstücke erzählen sie von einem Leben in einer aus den Fugen geratenen Zeit und Welt. Salomon begann mit ihrer Kindheit in Berlin und dem Tod der Mutter, der ersten Frau ihres Vaters. Dann folgt Hitlers „Machtergreifung“, ihre erste Liebe, der Tod der Großmutter, die Emigration. Dennoch ist „Leben? oder Theater?“ nicht als autobiographischer Tatsachenbericht zu verstehen, er bringt vielmehr unterschiedliche Situationen und Lebensumstände in einen freien Sinnzusammenhang.

Im formalen Aufbau folgt „Leben? oder Theater?“ der narrativen Struktur eines Theaterstücks in Akten und Szenen und kann so vom Ausstellungsbesucher gelesen werden. Gleichzeitig nimmt das Werk den hybriden Charakter aus Text- und Bildebene einer Graphic Novel vorweg. Dabei erzählt jedes Blatt eine Geschichte. Die Figuren beruhen auf Salomons persönlichem Umfeld, sind von ihr jedoch subjektiv herausgearbeitet und somit zu fiktiven Charakteren abstrahiert.