Shirley Jaffe, Form als Experiment: Ein neues Alphabet

Shirley Jaffe
Shirley Jaffe, Sailing, 1985, Foto: Centre Pompidou, Musée national d'art moderne, Paris, © ProLitteris, Zürich
Review > Basel > Kunstmuseum Basel
27. Mai 2023
Text: Christian Gampert

Shirley Jaffe: Form als Experiment.
Kunstmuseum Basel, St. Alban-Graben 16, Basel.
Dienstag, Donnerstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 30. Juli 2023.
www.kunstmuseumbasel.ch
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen: Christoph Merian Verlag, Basel 2023, 296 S., 49 Euro | ca. 49.00 Franken.

Shirley Jaffe
Shirley Jaffe, Ohne Titel, ca. 1965, Foto: Audrey Laurans, © ProLitteris, Zürich
Shirley Jaffe
Shirley Jaffe, Ohne Titel, Quaker Oats, 1979, Foto: Adam Rzepka, Courtesy Centre Pompidou, Musée national d'art moderne, © ProLitteris, Zürich

Shirley Jaffes Reise nach Paris 1949 war eigentlich ein Zufall und entsprang purer Abenteuerlust der 26-Jährigen. Ihr Ehemann, der Journalist Irving Jaffe, bekam ein Stipendium, sie wollte malen und sich ausprobieren. Das tat sie auch. In Paris fanden sich damals viele Künstler aus dem Umkreis des Abstrakten Expressionismus zusammen. Shirley Jaffe (1923-2016) verkehrte und malte in diesen Kreisen der Expats, bis die meisten von ihnen wieder in die USA zurückkehrten – während sie bleiben sollte. Die Ausstellung im Kunstmuseum Basel „Shirley Jaffe. Form als Experiment“ führt uns in den ersten Sälen durch Jaffes Frühwerk, konvulsivische, wild suchende gestische Malerei in meist dunklen Farben – nur ein Bild, das ihrem lebenslangen Freund und Unterstützer Sam Francis (1923-1994) gewidmet ist, leuchtet in hellem Gelb. Von Francis, einem Zentralgestirn der gestischen Malerei, hängt übrigens immer noch das Riesenformat „Meaningless Gesture“ im Treppenhaus des Kunstmuseums Basel.

Shirley Jaffe aber arbeitet sich bis Mitte der 1960er Jahre mit bemerkenswerter Intensität durch alle möglichen Spielformen des Abstrakten Expressionismus – um dann zu merken, dass diese doch sehr männliche Ausdrucksform ihr möglicherweise gar nicht entspricht. Jaffe habe auf sehr radikale Weise alles hinter sich gelassen, sagte die Kuratorin Olga Osadtschy: den Ehemann, von dem sie sich scheiden lässt. Die gestische Malerei. Und auch die Weggefährten – also die anderen Amerikaner, die damals in den 1950er Jahren mit ihr in Paris waren.

Jaffes Freundin und Konkurrentin ist Joan Mitchell (1925-1992), die später Bilder irgendwo zwischen Claude Monet, Vincent van Gogh und Willem de Kooning malt. Shirley Jaffe geht einen ganz anderen Weg: im Zuge der 68er-Proteste, die sie hautnah miterlebt, entscheidet sie sich für eine Abstraktion, die die Welt aus lauter Einzelteilen, Puzzleteilen zusammensetzt, biomorphe oder auch geometrische Formen, die spielerisch immer neu zueinanderfinden. Die politisch immer unüberschaubarer werdende Welt ist hier zurechtgelegt wie ein verschiebbares, leuchtendes Legoland, das allerdings oft genug auch durcheinandergewirbelt wird.

Draußen die Straßenkämpfe des Mai ‘68, drinnen im Atelier der Shirley Jaffe die stille Revolution der Zeichen. Und dort entwickelt sie ein ganz neues Alphabet aus Formen, die sehr eng zusammengefügt werden – aus Farben, die lediglich aus zwei Tönen bestehen durften. Akribisch notiert Jaffe, was sie tut: sie schreibt jeden Arbeitsschritt auf Zettel, eine Art Logbuch. Jede Form, jede Farbmischung ist hier notiert, um Ordnung ins Chaos zu bringen. Das ist quasi das Gegenprogramm zur Wildheit der frühen Jahre: es geht nicht mehr um die Geste, sondern um die Ordnung einer Gesamt-Komposition, um das abstrakte Bild an sich. Diese Arbeitsweise ist mit vielen Entbehrungen verbunden, auch finanziellen. Denn Jaffe ist kommerziell nicht besonders erfolgreich und lebt in prekären Verhältnissen – und relativ einsam – in einer Wohnung im vierten Stock in der Rue Saint Victor im fünften Arrondissement. Links im Zimmer stehen die fertigen Bilder, rechts die in Arbeit befindlichen. Sie durchstreift die Stadt, fotografiert viel, dokumentiert den Abriss der Gare Montparnasse und erlebt den Neubau. Man hat ihre späteren Bilder „urbane Abstraktion“ genannt – aber vielleicht ist das eine Projektion.

Großes Format, Diptychen, trapezförmige, zusammensetzbare Leinwände: die Bilder werden gegen Ende ihres Lebens immer heller, auf weißem Grund werden immer neue popfarbene Zeichen dynamisch verschoben. Eine Reise ins Licht. Und: Shirley Jaffe wird zur Anlaufstation für junge amerikanische Künstler. Wer immer nach Paris kommt, kommt zuerst zu ihr. Als sie 2016 stirbt, ist sie ein Pariser Mythos. Das Centre Pompidou hat sie gefeiert, jetzt ist sie im Kunstmuseum Basel zu sehen. Hingehen!