Sarah Pschorn: Records of Gravity. Faltenwürfe unter ausdruckreichen Glasuren

Sarah Pschorn, Element von Perfect Balance, 2022/23, Courtesy the artist, Foto: Sarah Pschorn
Review > Bremen > Gerhard Marcks Haus
20. April 2023
Text: Rainer Beßling

Sarah Pschorn: Records of Gravity.

Gerhard-Marcks-Haus, Am Wall 208, Bremen.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 21.00 Uhr
Bis 7. Mai 2023.

www.marcks.de

Sarah Pschorn, We Shall Sea 1, 2022, Courtesy the artist, Foto: Sarah Pschorn
Sarah Pschorn, We Shall Sea 5, 2022, Courtesy the artist, Foto: Sarah Pschorn

[— artline Nord] Das Ranking der künstlerischen Gattungen bleibt in Bewegung. Zu den jüngsten Aufsteigern gehört die Keramik. Kaum mehr nachvollziehbar, dass ihr Material mal zu den Schlusslichtern zählte. Zu leicht wü̈rde es sich der kü̈nstlerischen Gestaltung unterwerfen, so der fragwürdige historische Vorwurf. Auch der Status einer „Studie“ oder „Skizze“ ist inzwischen Geschichte. Mehr noch: Momentan lässt sich ein regelrechtes Konjunkturhoch der Keramik erkennen. Ein Erklärungsversuch ist gerade Standard: In der virtuellen Gegenwart bilde der erdige Ton einen Gegenpol, der das unverwüstliche Bedürfnis nach Haptik befriedige. Das klingt plausibel. Aber könnte es nicht auch sein, dass in jüngster Zeit keramische Kunst entsteht, die sich nicht mehr nur vom Angewandten löst, sondern historisch informiert, handwerklich-technisch auf höchstem Niveau und motivisch-thematisch auf der Höhe der Zeit ein besonderes ästhetisches Niveau ausbildet?

In seiner aktuellen Ausstellung bietet das Gerhard-Marcks-Haus in Bremen nicht nur der boomenden Gattung, sondern auch einer jungen Künstlerin eine große Bühne. Ein Statement in zwei Richtungen: Zum einen kann das Publikum das schon fortgeschrittene und durch bereits eigene Handschrift geprägte Schaffen von Sarah Pschorn (*1989) in einem breiten Spektrum kennenlernen. Zum anderen weist der Ort dem Werk der in Leipzig lebenden Künstlerin bildhauerischen Status zu. Auch wenn Pschorn mit Gefäßvariationen und -transformationen an die Formensprache des keramischen Kunsthandwerks anknüpft, verfolgt sie spezifisch bildhauerische Fragen und Themen. Die Architektur des Bremer Bildhauermuseums bietet durch Foyer, Halle, mit zwei Flügeln und zwei alleinstehenden Räumen eine Vorlage für die Gliederung und Stationenfolge einer Ausstellung. Sarah Pschorn entzieht sich diesem Prinzip eher und fächert Grundmotive und Grundgedanken in verschiedene Figurationen und Referenzen hinein auf. So kann das Publikum eigene Wege verfolgen und eigene Konstellationen bilden. Zu empfehlen ist, die Räume in unterschiedliche Korrespondenzen zu setzen. Denn immer wieder tauchen Leitmotive in inspirierten Variationen auf.

Aufgrund der Geschichte der Gattung nachvollziehbar, tritt die Gefäß- oder Vasenform prominent in Erscheinung. In einem Raum, den die Künstlerin mit „Paradies“ überschreibt, taucht diese in Gestalt von organisch anmutenden Röhren in pflanzenartigen Verbünden auf. Diese verweisen auf eine farbintensive und formverspielte Unterwasserwelt, zu der die Künstlerin durch popkulturelle Geschichten wie „Arielle“ inspiriert wurde. Die motivische Seite ist bildhauerisch flankiert, denn Gewicht und Statik der plastischen Figurationen brechen sich am Erzählerischen, am Schwebenden des Wassergeschehens, an den spürbaren sanften Bewegungen am Meeresgrund.

So wie Referenzen an keramische Grundformen auch in Werkgruppierungen unter den Titeln „Balance“, „Schwere“ oder „Cloudy“ sichtbar werden, so zieht sich auch plastisches Basisdenken durch alle Arbeiten. Das Ausbalancieren von Gewichten und Gewichtungen, das Arbeiten mit der Schwerkraft und gegen sie, die Inszenierung von Präsenz aus Körperkern, Volumen­spannung und Liniensprache spielen mit der Expressivität von Haut und Hülle zusammen. Virtuos lässt Sarah Pschorn Falten und Verwerfungen zu­sammen mit ausdrucksreichen Glasuren sprechen. Faszinierend sind Arbeiten, die in Verbindung von Tuch und Ton das Falten- und Gewandthema aufgreifen. Hier prägt sich das Material auf spezifische Weise in das traditionsreiche Motiv ein. Und hier zeigt sich, dass zeitgenössische Keramik nicht zuletzt dadurch geprägt ist, die Grenzen von Technik und Stoffeigenschaften zu verschieben. Und hier zeigt sich auch: Ton ist nicht durch willige Dienstbarkeit geprägt, sondern durch Eigensinn, der Kunst als Formaufgabe zwischen die Ausführung von Idee und die Bewältigung des Materials stellt.