Jala Wahid: Mock Kings. Archäologie und Fiktion

Jala Wahid, Mock Kings, Installationsansicht, Kunstverein Freiburg, 2023, Foto: Marc Doradzillo
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19. April 2023
Text: Dietrich Roeschmann

Jala Wahid: Mock Kings

Kunstverein Freiburg, Dreisamstr. 21, Freiburg.
Mittwoch bis Freitag 15.00 bis 19.00 Uhr, Samstag bis Sonntag 12.00 bis 18.00 Uhr.
Zur Ausstellung gibt es ein umfangreiches Begleitprogramm unter
kunstvereinfreiburg.de

Bis 14. Mai 2023

Jala Wahid, Metaphysical Reunification, 2023, Foto: Marc Doradzillo
Jala Wahid, Metaphysical Reunification, 2023, Foto: Marc Doradzillo
Jala Wahid, Metaphysical Reunification, 2023, Foto: Marc Doradzillo

Jedes Jahr im Frühling, pünktlich zum kurdischen Neujahrfest Newroz, soll die Welt zwischen Mossul und Basra Kopf gestanden haben. Das zumindest berichten spärlich verstreute Quellen aus den frühen 1920er Jahren, auf die sich die in London lebende kurdische Künstlerin Jala Wahid mit ihrer aktuellen Ausstellung im Kunstverein Freiburg bezieht. Mîrmîran hieß die karnevaleske Performance, in der die gesellschaftliche Ordnung für einen kurzen Moment aus den Fugen geriet. Männer mussten ihre Bärte halbseitig rasieren und britische Kolonialbeamte wurden im Gefängnis eingeschlossen, das diese sonst selbst bewachten. Wenn der Spuk nach ein paar Tagen vorbei war, wurden sie freigelassen. Der falsche König, ein Kurde, der zuvor auf einem Stier in die Stadt geritten war und den Briten das Zepter aus der Hand genommen hatte, dankte ab und alles nahm wieder seinen gewohnten Lauf – bis zum nächsten Newroz.

In den von Kurden besiedelten Gebieten war die Karnevalstradition rund 2000 Jahre alt, als die Briten, die hier seit 1920 mit einem Mandat des Völkerbundes herrschten, den Brauch verboten. Sie befürchteten, die Kurden könnten dauerhaft Gefallen finden an den ins Gegenteil gespiegelten kolonialen Hierarchien.

Jala Wahid beschäftigt sich in ihrer Kunst seit Langem mit der Frage, wie Erinnerung Gestalt annimmt. Bislang griff sie dafür oft auf Archive zurück und erkundete in ihren Ausstellungen Formen des Dokumentierens und Bewahrens von flüchtigen Momenten abseits einer von der Forschung als gesichert erachteten Datenbasis. Mit Mîrmîran widmet sie sich nun erstmals einem Phänomen, zu dem auch die Archive weitgehend schweigen. Lediglich zwei vage Hinweise fand sie dazu sowie eine Notiz über das Verbot. Das wirft eine interessante Frage auf: Wie erinnern wir Dinge oder Ereignisse, von denen wir nicht wissen, wie oft und in welcher Weise sie überhaupt stattgefunden haben, wenn es keine Spuren gibt, keine Aufzeichnungen, keine Zeugen? Wie sicher lassen sich Erinnerung und Fiktion dann noch unterscheiden? Und inwieweit tragen beide Formen des Erzählens ebenso ihren Teil zur Speicherung und Zirkulation von Wissen bei wie das belastbare Resultat wissenschaftlicher Forschung?

Im Kunstverein Freiburg löst Wahid diese spekulative Ausgangslage in eine zarte Raumzeichnung auf. Das rosafarbige Licht, in das der Saal getaucht ist, schafft auf seltsam unbarmherzige Weise eine Atmosphäre der Geborgenheit in klinischer Kälte. In der Mitte der Halle bilden rot lackierte Stahlstangen eine Art Käfig. Der Grundriss orientiert sich an der umlaufenden Galerie im Obergeschoss, von wo aus ein riesiger Stier in den Raum zu springen scheint. Auch er besteht aus einer Linie aus Stahl, zur Kontur eines Körpers von archaischer Kraft gebogen und zugleich durchlässig für den Blick, ein Fakt in Auflösung, irgendwo zwischen Andeutung, Gerücht, Ahnung und fragmentarischer Überlieferung. Mit ihrer Installation „Mock Kings“ entwirft Jala Wahid hier eine Arena zum Nachdenken über die Herausforderung, die es für die westlich geprägte historische Forschung lange bedeutete, einen nicht-staatlichen kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenhang wie Kurdistan überhaupt zu erfassen, der sich den eigenen Konzepte von Nationalstaatlichkeit entzieht.

Davon erzählt auch die 54-teilige Alurelief-Serie „Metaphysical Reunification“, inspiriert von den Spielkartensets, die die US Army 2003 nach der Irak-Invasion an ihre Soldaten verteilte, mal mit den Konterfeis der Gejagten, mal mit Objekten der antiken Kultur, deren angeblicher Schutz die kriegerischen Handlungen zusätzlich legitimieren sollte.

Eine Hälfte der Motive aus Wahids Serie stellen reale Artefakte aus Plünderungen durch die Kolonialmächte oder aus archäologischen Grabungen in Mesopotamien dar, die sich heute weltweit in den Sammlungen großer Institutionen wie dem British Museum befinden und dort als Beleg eines bestimmten geschichtlichen Narrativs dienen. Die andere Hälfte der Objekte hat Wahid frei erfunden, ausgehend von ihren Recherchen und von dem Gedanken, dass auch das archäologische Wissen, das in den Museen so selbstbewusst auf den Kärtchen mit den Objektbeschreibungen zirkuliert, zu großen Teilen auf Spekulation beruht. Die formale Strenge der einzelnen Arbeiten, aber auch die Stringenz der gesamten Ausstellung und ihre monochrome Ausleuchtung wirken da fast wie eine Parodie auf den vermeintlich klaren, aber unweigerlich gefärbten Blick der westlich geprägten Archäologie.