Mikołaj Sobczak: Leibeigene. History in Drag

Mikołaj Sobczak, Goodbye, 2022, Courtesy the artist & Polana Institute, Warschau. Foto: Mikołaj Sobczak
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15. Dezember 2022
Text: Jens Bülskämper

Mikołaj Sobczak: Leibeigene.

Kunsthalle Münster,
Hafenweg 28, 5. Stock, Münster.
Dienstag bis Sonntag 12.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 22. Januar 2023.

www.kunsthallemuenster.de

Mikołaj Sobczak, Harem, 2022, Courtesy the artist & Polana Institute, Warschau. Foto: Mikołaj Sobczak
Mikołaj Sobczak, Upiór, 2022, Filmstill, Courtesy the artist & Polana Institute, Warschau. Foto: Mikołaj Sobczak

[—artline Nord] So viel Malerei war selten: Die Kunsthalle Münster, einer Connaisseur-haften Verliebtheit in jenes Medium unverdächtig, zeigt aktuell mehr Gemälde als vielleicht je zuvor. Und was Mikołaj Sobczak (*1989) da bildgewaltig aufmarschieren und durch seine erste institutionelle Einzelausstellung jenseits der polnischen Heimat paradieren lässt, hat’s in sich: Züngelnde Flammen, gereckte Fäuste – Agitprop-Gestus im Breitwandformat oder als „Cut-outs“ auf Sperrholz; in einer Ästhetik der Dringlichkeit, vom Screening performativer Videofilme weiter befeuert. Gleich im Entrée verwirrt ein als stilisierte Faust ausgesägter „Aufsteller“: Eine kämpferische Ansage, klar – bloß mit welcher Stoßrichtung? Was haben ein zerschlagener Spiegel, eine anthropomorphe Tiergestalt mit Geweih und eine LGBTQI+-Demonstration, so lässt sich im Gespräch mit Merle Radtke ermitteln, miteinander zu tun?

Wohl dem, der das Booklet zur Hand hat oder die Kuratorin des Hauses trifft – forensischer Spürsinn ist gefragt, um dem ausgefuchsten Verweisspiel auf die Spur zu kommen. Und siehe da: Die polizeiliche Bespitzelung Homosexueller im Hamburg der Achtzigerjahre, durch perfide Spionspiegel in öffentlichen Toiletten, trifft auf das Zitat einer Bilderzählung Tizians, in der die erzürnte Göttin Diana, beim Bade vom unbotmäßigen Lauschangriff des Jägers Actaeon gestört, jenen mit der Verwandlung in einen Hirsch bestraft, und der, von den eigenen Hunden nicht mehr erkannt, sodann zerfleischt – und also vom Jäger zum Gejagten wird. Wen würden die queeren Aktivist:innen wohl, könnten sie jene mythologischen Metamorphosen ins Werk setzen, konfrontieren und zur Rechenschaft ziehen? Hoppla – hier geht’s um was!

Sobczak macht die Malerei in ihrer zerebralen Spielart stark, türmt das Historien-Amalgam des Ausstellungspanoramas zum Hyperimage auf, in dem alles mit allem zu tun zu haben scheint, und spielt sein Publikum gleichsam schwindelig. Dazu passt ein formales Device mit leitmotivischem Charakter: Immer wieder erscheinen Bildfragmente wie durch den Wolf digitaler Bearbeitung gedreht, von jenem „Swirl“-Effekt verflüssigt, wenn man so will. Tauchen jene „Strudel“ in ihrer händisch gemalten Version in den Gemälden auf, weist der verzerrte Look sie deutlich als Derivat, eben von computermanipulierten Images abgeleitet, aus. So wird ein unmittelbar zeitgenössischer Akzent gesetzt, der die Arbeiten außerdem miteinander verlinkt – es „strudelt“ quer durch die Medien hin und her. Wenn die Schau sich auf die Fahnen schreibt, was im Begleitheft als emanzipatorische Reformulierung tradierter, kanonisierter und hegemonial instrumentalisierter Geschichte, etwa durch das Patriarchat, beschrieben wird, dann scheint die visuelle Distorsion jenem „Rewriting“ symbolisch zu entsprechen – als Schwungrad, Drehkreuz, Weiche einer
Neuausrichtung.

„Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran“, mag man mit den Fehlfarben denken; hier wird Geschichte neu gedacht. Ein illustres Aufgebot an Revolutionären, bisweilen mit überraschendem Regionalbezug, bringen die rekonfigurierten Historienbilder in diesem Sinne ins Spiel: Täufer-König Jan van Leiden, Bauernkriegs-Vorkämpfer Thomas Müntzer oder Crossdressing-Pionierin Jeanne d’Arc führt Sobczak für seine Sache ins Feld, lässt sie etwa auf emblematische Zitate einer zeitgenössischen Gig-Economy treffen – der knallorange Rucksack, einem Lieferknecht aufgebuckelt, ist ausreichende Anspielung.

Eine weitere unverhoffte Münster-Connection: Bei einem Besuch anlässlich der vergangenen Skulptur Projekte mahnte Juliane Rebentisch in einer Brandrede an, dass die vielgepriesene Bedeutungsoffenheit der Kunst ihr da auf die Füße fallen könne, wo vielmehr rigorose und konkrete politische Einmischung angezeigt sei; auch jene Frage werfen Sobczaks „Leibeigene“ jetzt neu auf.