Yuri Ancarani: Menschen im Athropozän

Yuri Ancarani, Il Capo, 2010, 16 min., Courtesy the artist & Galerie Isabella Bortolozzi, Foto: Matthias Völzke
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4. Dezember 2022
Text: Kristina Tieke

Yuri Ancarani: Arbeiten 2002-2022.

Kunstverein Hannover, Sophienstr. 2, Hannover.
Dienstag bis Samstag 12.00 bis 19.00 Uhr, Sonntag 11.00 bis 19.00 Uhr.
Bis 8. Januar 2023.

www.kunstverein-hannover.de

 

Yuri Ancarani, Ugarit (Still), 2007, 7:12 min., Courtesy the artist & Galerie Isabella Bortolozzi
Yuri Ancarani, San Vittore (Still), 2018, 11:55 min., Courtesy the artist & Galerie Isabella Bortolozzi
Yuri Ancarani, Lapidi, Still, 2018, 10:26 min, Courtesy the artist & Galerie Isabella Bortolozzi

[—artline Nord] So clean und gleichzeitig so elegant wurden die Räume des Kunstvereins Hannover kaum je in Szene gesetzt. Der Italiener Yuri Ancarani, geboren 1972 in Ravenna, zeigt Videoarbeiten aus zwanzig Jahren und hat dafür ein Setting aus weißen Vorhängen und schwarzen Teppichinseln geschaffen, die auf kongeniale Weise die kühl-technisierte, meist männlich dominierte Welt vieler Arbeiten spiegelt und wie nebenbei perfekte Licht- und Soundverhältnisse schafft. Dass man nicht ebenso cool hindurchschlendert, ist der Intensität seiner Werke geschuldet.

Ancaranis konzentrierter Blick gilt dem Verhältnis von Mensch und Maschine, Kultur und Natur, den schonungslosen Gesellschaftssystemen und der Sensibilität des Einzelnen. Von „Portraits im Anthropozän“ spricht der neue Kunstvereinsleiter Christoph Platz-Gallus. In „Il Capo“ (2010), Ancaranis bekanntestem Werk, verfolgen wir die Tätigkeit eines Arbeiters im Marmorsteinbruch von Carrara. Mit kleinen Gesten dirigiert er den Einsatz eines riesigen Baggers, dessen Greifarme die weißen Marmorblöcke brechen. Der nackte Oberkörper des Mannes und seine fließenden Bewegungen wirken feinfühlig und zart vor der unbarmherzigen Kulisse des Steinbruchs. Im Nebenraum ist die Arbeit eines Ärzteteams in einer klinischen Abteilung für Roboterchirurgie zu sehen. Das Kamera-Auge dringt bis in den Bauchraum des Patienten vor, wo die metallenen Werkzeuge des „Da-Vinci-Systems“ die Membran der Organe minimal invasiv perforieren.

„San Giorgio“ (2019) schließlich führt in die Tresorräume einer Schweizer Bank, in der ein Angestellter Goldbarren schichtet, Buch führt und Akten schreddert. Seine ungelenke Körperlichkeit, bedingt durch eine Gehbehinderung, steht in irritierendem Kontrast zu den makellosen Oberflächen der Umgebung. Verletzlichkeit ist das Wesen von Ancaranis Figuren.

Für den Parcours im Kunstverein hat der 50-Jährige, der auf Filmfestivals ebenso zu Hause ist wie im Kunstbetrieb, viele seiner Langfilme neu geschnitten und auf kurze Sequenzen gebracht. Das tut der Faszination seiner Werke keinen Abbruch. In „San Vittore“, einer Auskopplung aus der Trilogie „The Roots of Violence“ (2014-2019), begleiten wir Kinder in ein Mailänder Gefängnis zum Besuch ihrer inhaftierten Väter. Wie hier in extremen Close-ups die Sicherheitskontrollen der Taschen und die endlosen Gänge in Begleitung des Wachpersonals mit bunten Kinderzeichnungen konfrontiert werden, mit denen die Kleinen in kunsttherapeutischen Sitzungen ihre traumatischen Erfahrungen verarbeiten, ist von einer Eindringlichkeit, die schmerzt.