Julia Scher, Maximum Security Society: Überwachung ist eine Weltsprache

Julia Scher, Maximum Security Society, Kunsthalle Zürich, 2022, Installationsansichten, Foto: Annik Wetter
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28. November 2022
Text: Theresa Roessler

Julia Scher: Maximum Security Society.
Kunsthalle Zürich, Limmatstr. 270, Zürich.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 11.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 15. Januar 2023.
www.kunsthallezurich.ch

Julia Scher, Maximum Security Society, Kunsthalle Zürich, 2022, Installationsansichten, Foto: Annik Wetter
Julia Scher, Maximum Security Society, Kunsthalle Zürich, 2022, Installationsansichten, Foto: Annik Wetter

Die Digitalisierung verlangt(e) nach einer neuen ökonomischen Logik. Die Soziologin Shoshana Zuboff untersuchte jene Elemente des digitalen Kapitalismus – Datenextraktion, Verhaltensvorhersage und -modifikation – und widmete sich den neuen Wirtschaftsmodellen der Techgiganten Google & Co in ihrem Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ (2018), was sie zu einer Art Kult-Ökonomin avancieren ließ. Auf der letzten Seite heißt es, dass dieses Zeitalter womöglich ein kurzes sein könnte „[i]mmerhin zeigt es uns bereits jetzt, wie wir nicht leben wollen.“ Ob Zuboff Recht behalten wird, wissen wir nicht. Klar ist jedoch, dass die US-amerikanische Künstlerin Julia Scher (*1954) mit „Maximum Security Society“ einen gewichtigen, nicht präskriptiven und außerordentlich humorvollen Kommentar hierzu leistet. Schließlich setzt sie sich seit mehr als drei Jahrzehnten mit Überwachungstechnologien auseinander. Während sie sich in den 1980ern noch mit der Frage konfrontiert sah, was mit Überwachung überhaupt gemeint sei, zeichnet sich heute in einer Gesellschaft, die der Soziologe Gary T. Marx als „maximum security society“ bezeichnet, ein weitaus differenzierteres und auch brutaleres Bild ab.

„Your image is being recorded onto video tape for your protection”, heißt es in Majuskeln auf einem der Hinweisschilder in der Kunsthalle Zürich. Die Tatsache, dass wir uns der Rolle als Datenlieferant:innen und der potentiellen Gefahr ständiger Überwachung oftmals gewahr sind, tangiert 2022 eventuell eine gewisse Gleichgültigkeit, die sich aus der Allgegenwärtigkeit von Überwachung ableiten ließe. In der zentralen Arbeit „Predictive Engineering“ (1993ff.), die als ein Raum im Raum eine Art Passage bereithält, geraten wir willentlich ins Visier. Wir entdecken uns auf der gegenüberliegenden Spiegelfläche sowie auf den sechs oberhalb angebrachten Monitoren zwischen weiteren Aufnahmen. Gesichter betrachten sich im Kamera­auge, nackte Körper hängen über dem Geländer, manche jagen sich gegenseitig, was an Verfolgungsszenen von Buster Keaton oder Charlie Chaplin erinnern lässt. Es handelt sich um Aufnahmen aus dem anliegenden Treppenhaus und es wird schnell klar, dass diese Fake Feeds viel eher einer konstruierten Simultaneität entsprechen, statt ein reales Raum-Zeit-Gefüge abzubilden versuchen. Interessanterweise berichtet Scher, dass Besucher:innen, die die Arbeit 1993 im San Francisco MoMA sahen, sich im Nebenraum vergewissern mussten, ob da nicht doch jemand sei. Nach mehr als 20 Jahren sind womöglich nicht mehr die Gegensatzpaare von Sehen/Gesehenwerden oder Disziplinieren/Diszipliniertwerden von Relevanz, als vielmehr die Fragen, wie bewege ich mich durch einen überwachten Raum und inwiefern spielt das eigene Begehren eine Rolle, sich selbst auf dem Bildschirm zu entdecken und zu beobachten?

Die Frage, welches Machtdispositiv „Predective Engineering“ zugrunde liegt, trägt uns weiter zu „Discipline Masters“ (1988), einem vierstündigen Film, den die Künstlerin als „eine persönliche Erzählung in Form eines Videobeichtstuhls“ bezeichnet und in dem sie von Kindheits- und Jugenderfahrungen berichtet. Dynamiken von Kontrolle innerhalb der kleinsten Zelle der Gesellschaft – der Kleinfamilie – verhandelt Scher außerdem in den Arbeiten „Mama Bed“, „Papa Bed“ und „Baby Bed“ (alle 2003). Die Familie wird hier als zentrale Akteurin gesellschaftlicher Reproduktion von Ordnungsprinzipien und Wertesystemen verstanden. Während das Bett des Vaters mit US-Army-Uniformen und unzähligen Kameras und Monitoren ausgestattet ist, das der Mutter mit Kinderbüchern und Lederpeitsche, sieht das des Kindes anders aus: Statt einer Matratze halten die massiven Stahlpfosten eine Glasplatte, statt einem Bettlacken liegt ein silikon-ähnliches, transparentes Material darauf. Scher bezeichnet es als „Bett der Zukunft“ und referiert so erneut auf Gary T. Marx, der die Hochsicherheitsgesellschaft als eine „transparente Gesellschaft“ beschreibt, in der Grenzen von Zeit und Raum, die ehemals Informationen schützten, geschwächt oder ganz aufgelöst werden. Das eigene und sicher geglaubte Schlafzimmer wird hier und anderswo zum Überwachungslaboratorium.