Territories of Waste: Nichts vergeht, alles bleibt

Hira Nabi, All That Perishes at the Edge of Land, 2019, Filmstill, Courtesy the artist, © Hira Nabi
Review > Basel > Museum Tinguely
19. November 2022
Text: Dietrich Roeschmann

Territories of Waste. Über die Wiederkehr des Verdrängten.
Museum Tinguely, Paul-Sacher-Anlage 1, Basel.
Dienstag bis Sonntag11.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 8. Januar 2023.
www.tinguely.ch

Julien Creuzet, diverse Arbeiten, 2022, Installationsansicht Museum Tinguely, Basel, Courtesy the artist & High Art, Foto: Matthias Willi
Mierle Laderman Ukeles, Touch Sanitation Performance, 1979-1980/2017, © Mierle Laderman Ukeles, Foto: Vincent Russo, Courtesy the artist & Ronald Feldman Gallery, New York
Agnes Denes, Wheatfield – A Confrontation: Battery Park Landfill, Downtown Manhattan – With Statue of Liberty, 1982 (l.), © Agnes Denes, Courtesy Leslie Tonkonow, New York

Leben, schreibt der Philosoph Emanuele Coccia, bedeutet immer, von Anderen zu leben. Von Pflanzen, Tieren, der Erde. Von allen und allem, was diesem Leben vorausging. Und weil das für jede Form von Existenz gilt, sieht Coccia auch die Menschen nicht als Individuen, sondern als Teil des einen Lebens auf der Erde, dessen grundlegende Bewegung die beständige Metamorphose ist. Dass Jean Tinguely (1925-1991) ein Experte in Sachen Metamorphose war, ist bekannt. Schon 1960 präsentierte er im MoMA-Garten seine „Hommage to New York“, die sich vor Augen des Publikum selbst zerstörte. Aus Erz wurde Stahl wurde Schrott wurde Kunst, und während draußen die Bagger den Umbau New Yorks in Angriff nahmen, verwandelte sich im MoMA die Kunst wieder in Schrott.

Die Ausstellung „Territories of Waste“ im Basler Museum Tinguely, die Arbeiten von 27 Kunstschaffenden versammelt, erzählt diese Geschichte der Verwandlung nun aus der Perspektive des vermeintlich überschüssigen Materials, das sich im Windschatten unseres Lebens hinter uns aufzutürmen scheint, tatsächlich aber längst Eingang in unsere Körper und die DNA aller Organismen gefunden hat, sei es in Form von Mikroplastik, Feinstaub oder Pharmamüll. Eloise Hawsers Videoarbeit „The Tipping Hall“ bringt diese paradoxe Gleichzeitigkeit von Wissen und Verdrängung im Umgang mit dem wachsenden Müllproblem gleich zu Beginn der Ausstellung auf den Punkt. Arbeiter:innen einer Müllverbrennungsanlage sitzen hier in einer High-Tech-Kanzel ganz aus Glas und manövrieren per Joystick stinkende Abfallberge mit riesigen Greifarmen durch den Raum. Die klare Trennung zwischen der sauberen und der dreckigen Welt vor und hinter der Scheibe liefert eine schöne Metapher für die grundlegende Bereitschaft, die schädlichen Folgen unseres Handelns auszublenden. Oder wenn das nicht gelingen will, sie wenigstens outzusourcen. Etwa nach Pakistan, wo Hira Nabi für ihren Film „All That Perishes at the Edge of Land“ die Ankunft eines ausgemus­terten Containerschiffs beobachtet hat, das von schlecht bezahlten Arbeitern unter lebensgefährlichen Bedingungen mit einfachstem Gerät in seine Einzelteile zerlegt wird. In Interviews mit den ausgezehrten Männern wird die Gewalt an Mensch und Natur greifbar, die die Wachstumslogik der Industrienationen im globalen Süden produziert. Nebenan erzählt Otobong Nkanga in ihren „Tsumeb Fragments“ von den Narben, die der Kupferabbau seit Beginn des Kolonialismus in der Landschaft Namibias hinterlassen hat. Das Duo Revital Cohen & Tuur Van Balen zündet chinesisches Feuerwerk in einer kongolesischen Coltan-Mine, wo der Rohstoff für die in China produzierten Smartphones gewonnen wird, an denen die Minenarbeiter ihr digitales Leben verbringen. Und während Anca Benera & Arnold Estefán in „The Last Particles“ den Strand in der Normandie, von dem aus die Alliierten 1944 ihre Invasion starteten, nach Schwermetallen sieben, listet Julien Creuzet in einem mit treibenden Beats unterlegten Rap-Video die gesundheitlichen, ökonomischen und sozialen Folgen des extensiven Bananenanbaus auf der französischen Insel Martinique auf, wo er geboren wurde.

Bemerkenswert ist, dass sich „Territories of Waste“ dennoch an keiner Stelle in apokalyptischer Rhetorik ergeht. Im Gegenteil. Die Überzeugung, dass ein besseres Leben möglich sei, ist in der Ausstellung überraschend präsent. Das indonesische Duo Tita Salina & Irwan Ahmett etwa erzählt in seiner berührenden Videoarbeit „Very Very Important Fish“ von der Umsiedlung eines kleinen Nilbuntbarsches mit bloßen Händen und per hupendem Mopedkonvoi aus einem verdreckten Fluss in Jakarta in ein sauberes Gewässer außerhalb der Stadt. Großartig auch die Langzeitperformance von Mierle Laderman Ukeles, die 1979 in einer spektakulären Aktion jedem einzelnen der 8.500 Müllwerker New Yorks die Hand schüttelte, um sich für ihre Care-Arbeit am Gemeinwesen zu bedanken. Wenig später pflanzte die Land Art-Künstlerin Agnes Denes  auf einer mit dem Aushub des World Trade Centers aufgeschütteten Brachfläche am Battery Park ein Weizenfeld. Auf einem ihrer Fotos ist die Freiheitsstatue zu sehen, die ihre Flamme über Denes’ Acker hält. „Die Zukunft ist unberührt“, sagt die Künstlerin heute, „geht behutsam mit ihr um“.