Niki de Saint Phalle: Vorbotinnen des Matriachats

Niki de Saint Phalle, King-Kong, 1962, Foto: Moderna Museet, Stockholm, © 2022 Niki Charitable Art Foundation / ProLitteris, Zurich, © 2022 Niki Charitable Art Foundation / ProLitteris, Zurich
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27. Oktober 2022
Text: Dietrich Roeschmann

Niki de Saint Phalle.
Kunsthaus Zürich, Heimplatz 1, Zürich.
Dienstag, Freitag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch und Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 8. Januar 2023.
www.kunsthaus.ch

Niki de Saint Phalle, Nana Mosaïque Noire, 1999, Foto: Archiv Sammlung Würth, © 2022 Niki Charitable Art Foundation / ProLitteris, Zurich
Niki de Saint Phalle, I Am the Nana Dream House, 1969, Foto: Musée d‘art et d‘histoire Fribourg, © 2022 Niki Charitable Art Foundation / ProLitteris, Zurich

In Kobaltblau, mit goldenen Flügeln und bunt gestreiftem Bodysuit empfängt Niki de Saint Phalles „L’ange protecteur“ seit 1997 die Reisenden am Zürcher Hauptbahnhof. Gut eine Tonne schwer, schwebt die monumentale Skulptur hoch oben unterm Dach der ehemaligen Ankunftshalle. „L’ange protecteur“ gehört zur Werkgruppe der „Nanas“, die Niki de Saint Phalle Mitte der 1960er Jahre berühmt machte. Im Kunsthaus Zürich, das gerade eine große Retrospektive zum 20. Todestag der Künstlerin zeigt, sind gut drei Dutzend dieser rundlichen Frauenfiguren zu sehen – auf Sockeln tanzend, in Vitrinen posierend, als Protagonistinnen in Wimmelbild-Comics oder auf Plakaten mit Slogans wie „Les Nanas au pouvoir!“. Man könnte sie als frühe Heroinen der Body Positivity beschreiben: korpulent und grazil, nackt und bunt, auf eine selbstbewusste Weise raumgreifend und dabei bemerkenswert uneindeutig und offen, was die Optionen angeht, sie als Verkörperung weißer oder schwarzer, junger oder alter Frauen zu entziffern. Darin dürfte ein Teil ihres Erfolgs begründet liegen. Wie kein anderes Figurenkollektiv der jüngeren Kunstgeschichte sprengten die „Nanas“ die Grenzen der Kunstwelt und eroberten die Alltagskultur, auf Kaffeetassen und Seidenschals, als aufblasbare Skulpturen fürs Kinderzimmer oder Kapriolen schlagende Gute-Laune-Kunst auf den Grünstreifen großstädtischer Boulevards.

Der Weg in diese farbenfrohe Welt der „Nanas“ führte die Künstlerin indes zunächst durch Abgründe individiueller und kollektiver Traumata. Niki de Saint Phalle, 1930 geboren als Tochter einer US-Amerikanerin und eines französischen Adligen, wuchs zunächst im Pariser Nobelviertel Neuilly-sur-Seine auf und später in New York, wohin die Familie gezogen war, nachdem der Vater sein Vermögen verloren hatte. Die junge Niki besuchte eine Klosterschule, heiratete mit 18 und wurde mit 21 zum ersten Mal Mutter. Das Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter beschrieb sie später als zerrüttet: „Alles musste vor Dir, Mutter, versteckt werden. Ich zeige es. ICH ZEIGE ALLES. Mein Herz, meine Gefühle. Grün, blau, rot, gelb, alle Farben“. Als Kind war Niki de Saint Phalle mehrfach Opfer sexueller Gewalt durch ihren Vater geworden. Später legte sie selbst nahe, ihre Kunst als Bewältigung dieser traumatischen Erfahrung zu lesen: „Durch die Bilder zerstampfe ich meinen Vater, ich demütige ihn mit aller Kraft und töte ihn“. Dennoch erklärt das nur zum Teil die ungewöhnliche Dringlichkeit ihrer Arbeiten, die bis heute spürbar ist. In Zürich erzählen davon etwa die „Schießbilder“ der frühen 1960er Jahre, mit denen de Saint Phalle über Nacht zum Shooting Star der Pariser Kunstszene wurde. In spektakulären Happenings feuerte sie mit einem Gewehr auf mit Farbbeuteln gefüllte weiße Gipsreliefs, aus denen dann das Kunstblut quoll. Dass ihre Ziel-Tableaus von Jahr zu Jahr immer größer wurden, wie in Zürich zu sehen ist, und neben monströsen Mutterfiguren bald auch feiste Politikermasken und die Schreckens­arsenale des Krieges versammelten, zeigt, wie sehr sich de Saint Phalle auch als politische Künstlerin verstand. Das gilt für die „Schießbilder“ ebenso wie für ihre viel beachteten Kampagnen gegen AIDS, Waffengewalt oder für das Recht auf Abtreibung. Vor allem aber gilt es für die ihre „Nanas“. Fasziniert von der Schönheit des Körpers ihrer schwangeren Freundin Clarice Rivers, modellierte sie 1965 die ersten dieser fröhlichen Figuren und rückte damit erstmals die Themen Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft in den Fokus der Kunst. Die Künstlerin wollte ihre „Nanas“ verstanden wissen als Verkünderinnen eines kommenden Matriarchats. Die größte und zugleich provokanteste Vorbotin dieser nahenden Zukunft, in Zürich im Modell zu sehen, präsentierte sie 1966 im Moderna Museet in Stockholm. Gut 25 Meter lang und sechs Meter hoch ruhte die schwangere Nana „Hon“ mit gespreizten Beinen im Museum. Die Besucher:innen betraten die Liegende durch ihre Vulva – ein großes Loch –, hinter der eine Bar wartete, ein Kino und eine Ausstellung mit gefälschten Gemälden berühmter Männer von Klee bis Kandinsky – eine radikale Geste weiblicher Selbstermächtigung im männlich dominierten Museum.