Georg Freuler. Augenblick und Wahrhaftigkeit: an den Rändern

Georg Freuler, Frau mit Hund, (Beiz im Gundeldingerquartier), 80er Jahre
Review > Riehen > Kunst Raum Riehen
4. Oktober 2022
Text: Iris Kretzschmar

Georg Freuler. Augenblick und Wahrhaftigkeit.
Kunst Raum Riehen, Baselstr. 71, Basel-Riehen.
Bis 6. November 2022.
www.kunstraumriehen.ch

Georg Freuler, New York 42th Street, 1993
Georg Freuler, Paul, Alter Schluuch, Basel, 1976

Seit über 60 Jahren ist Georg Freuler (*1938) mit seiner Leica unterwegs und leuchtet die Ränder der Gesellschaft aus. Nicht nur in der Schweiz, auch in den Metropolen der Welt. Entstanden ist ein Panoptikum an Menschenbildern, verlorenen Seelen, Gestrandeten, Schutzlosen und Ausgestossenen, Verwahrlosten, Süchtigen und Alkoholikern. Sie sind die traurigen Helden seiner Bilder, alle kennt er persönlich.

In 182 Bilder fächert die Kuratorin Kiki Seiler im Kunst Raum Riehen die Qualitäten eines eindrücklichen Oeuvres auf, das viele Altmeister der Lichtkunst wie Steichen, Cartier-Bresson oder Sander aufscheinen lässt. Jeder Raum hat seine eigene Stimmung, es wechseln Themenblöcke mit Einzelaufnahmen. Zu Beginn die Porträts aus Basel, jüngere und ältere Frauen, nachdenklich oder verwegen treten sie auf. Es sind Atelieraufnahmen ohne erzählende Hintergründe, allein über Blick, Gestik und Kleidung entstehen kleine Geschichten. Da ist die Serviertocher aus dem St. Johanns-Quartier, mit einer Patrone als Schmuck auf der entblössten Brust oder die melancholische Schönheit mit wilden Locken im langen, schwarzen Mantel. Sie könnte locker einem Stummfilm entsprungen sein.

Ein weiterer Raum zeigt Akte, Frauen traumverloren, einer Venus gleich in sich ruhend. Sie evozieren Gemälde von Bonnard oder Klimt. Überhaupt scheint die Fotografie oft malerische Züge anzunehmen, wenn samtschwarze Schatten Körper modellieren, Unschärfe als künstlerische Strategie Bedeutung schafft, ist man verführt an Caravaggio oder Rembrandt, die Meister des Chiarosuro zu denken. Eine bestechende Lichtführung, die nur das Wichtigste akzentuiert, ist allen Werken von Freuler eigen. Nur selten arbeitet er mit Blitz wie in einer Strassen-Aufnahme von New York. Diese Stadt der verrückten Geister lebt auch in Bildern voller Schalk und hintergründigem Humor. Wo geht man schon mit einem Affen einkaufen?

Fast versteckt, im geschützten Rahmen zeigt die Kuratorin die intimen Bilder der 90er Jahre vom Platzspitz und Letten aus Zürich. Erstmals sind sie ausgestellt, lange hat Freuler gezögert. Er möchte sie nicht falsch verstanden wissen. Noch heute ist er aufgewühlt, wenn er an sie denkt. Freuler kochte für seine Klientel, brachte warmes Essen vorbei. Aus diesen Begegnungen entstehen berührende Porträts. Ohne Scham zeigen die jungen Frauen ihre Wunden und zerstochenen Arme. Trotz, Bitterkeit und Gleichmut sprechen aus den Gesichtern. Es sind versehrte Körper, verletzte Seelen, die in den Schwarzweissaufnahmen eine neue Würde erhalten haben.