Berenice Olmedo: Hic et nunc. Jenseits der Norm

Berenice Olmedo, Hic et nunc, Ausstellungsansicht Kunsthalle Basel, 2022, Foto: Philipp Hänger/ Kunsthalle Basel
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13. Juli 2022
Text: Dietrich Roeschmann

Berenice Olmedo: Hic et nunc.

Kunsthalle Basel, Steinenberg 7, Basel.
Dienstag bis Freitag 11.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 11.00 bis 20.30 Uhr, Samstag und Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 18. September 2022.

www.kunsthallebasel.ch

Berenice Olmedo, Hic et nunc, Ausstellungsansicht Kunsthalle Basel, 2022, Foto: Philipp Hänger/ Kunsthalle Basel
Berenice Olmedo, Hic et nunc, Ausstellungsansicht Kunsthalle Basel, 2022, Foto: Philipp Hänger/ Kunsthalle Basel

Manchmal gibt es Situationen, in denen man denkt, dass es jetzt keine schlechte Idee wäre, zu helfen. Doch dann weiß man nicht wie, und plötzlich steht man selbst ein bisschen hilflos in der Gegend herum und redet sich ein, dass man ja geholfen hätte, wenn einen jemand gefragt hätte – hat aber niemand.

Es ist dieses verschämt ins Leere laufende Mitgefühl, das die Skulpturen von Berenice Olmeda im Oberlichtsaal der Kunsthalle Basel derzeit auslösen. Wie traurige Würmer hängen sie dort von der Decke, 19 farblose, transparente Gebilde, an dünnen Strängen, die aussehen wie Nabelschnüre, und wirklich scheint durch sie die Energie zu fließen, die sie zum Leben erweckt. Langsam winden sich ihre stumpfartigen Enden in verschiedene Richtungen, als würden sie stumm die Umgebung ertasten, einsam, blind und orientierungslos. In der Menge addieren sich ihre Bewegungen zum sanften Pulsieren, zum Tanz eines Makroorganismus mit vielen Tentakeln. Das hat eine eigene Kraft und Schönheit, wirkt aber durchaus beunruhigend. Daran ändern auch die Namen nichts, die Berenice Olmedo den Skulpturen ihrer Serie „Hic et nunc“ gegeben hat – im Gegenteil. Sie heißen „Irma, Patricia“ oder „Félix, Ramiro“ und sind benannt nach je zwei Menschen, denen ein Bein amputiert wurde. Die Abgüsse ihrer Stümpfe, die in der Orthopädie zur Anpassung ihrer Prothesen verwendet werden, bilden je eine Hälfte dieser larvenartigen Plastikwesen.

Olmedo, 1987 in Oaxaca geboren, arbeitete dafür eng mit einer Reha-Klinik in Mexiko-Stadt zusammen. So gleichförmig die Objekte erscheinen, so einzigartig und unverwechselbar sind sie tatsächlich. Ihre beweglichen Enden, in Silikonhaut über den Stumpf gezogen, werden von kleinen Robotersystemen animiert. Es ist nicht klar, warum und wo die Menschen ihre Gliedmaßen verloren haben – aufgrund eines Unfalls, einer Krankheit, nackter Gewalt? Wahrscheinlich aber ist, dass der Verlust einen tiefen Einschnitt im Leben jeder der betroffenen Person bedeutete – nicht zuletzt weil ihnen damit in einer Gesellschaft, in der das Konzept Gesundheit sozialen und ökonomischen Normen unterliegt, plötzlich die körperliche Integrität abgesprochen wurde.

Den normativen Blick auf den menschlichen Körper thematisiert auch die zweite Skulpturengruppe „alêtheia“, die Olmedo in ihrer nur auf den ersten Blick spröden Schau in Basel zeigt. Ebenfalls aus transparentem Plastik gegossen, hat sie hier an verchromten Stangen torsoartige Gebilde montiert, die, wie grob verstümmelt, auf Wiederherstellung zu warten scheinen. Aber stimmt das wirklich? Ist es nicht eher unser Blick, der die Wiederherstellung ihrer Integrität fordert? Und wäre so gesehen unser Mitleid weniger Ausdruck von Empathie mit dem subjektiven Befinden konkreter Individuen als vielmehr unseres Beharrens auf der ebenso ganzheitlichen wie ausschließenden Idee des unversehrten Menschen, und damit eine Komplizin der Norm?