Anouk Kruithof, Universal Tongue: Tanz die Enzyklopädie

Anouk Kruithof, Universal Tongue, Installationsansicht Museum Tinguely, Basel, courtesy the artist, Foto: Matthias Willi
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24. Juni 2022
Text: Dietrich Roeschmann

Anouk Kruithof, Universal Tongue.
Museum Tinguely, Paul-Sacher-Anlage 1, Basel.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 30. Oktober 2022.
www.tinguely.ch

Aus der Ferne quietschen und stöhnen die Schrottgliedmaßen der Skulpturen, die Jean-Tinguely 1986 für seine legendäre Rauminstallation „Mengele Totentanz“ zusammengeschraubt hat. Alle paar Minuten, wenn Besuchende den Fußschalter bedienen, ächzt das Ensemble los und wirft, dramatisch beleuchtet, wilde Schatten an die Wand. Als spätes Hauptwerk gehört der „Totentanz“ zu den Highlights der Sammlung des Museum Tinguely, wo er dauerhaft installtiert ist und eingeladene Künstler*innen regelmäßig zum künstlerischen Dialog auffordert. Derzeit ist hier die Niederländerin Anouk Kruithof zu Gast. Die 40-Jährige, die in Belgien und New York lebt, wurde bekannt mit Arbeiten, die das Medium Fotografie in einem erweiterten Feld thematisieren. In Brooklyn verteilte sie zum Beispiel Flyer auf der Suche nach einer Person, die noch nie fotografiert hatte, um diese dann als Assistenzkuratorin zu engagieren. Was Kruithof interessierte, war die völlig unvoreingenommene Perspektive der 19-Jährigen auf ihr Archiv. Auch für ihre Installation im Museum Tinguely delegierte die Fotografin wesentliche Entscheidungen an andere, in diesem Fall an eine Gruppe von über 50 Recherchierenden, die das Internet monatelang nach privaten Tanzvideos durchsuchten. Am Ende summierte sich das Material auf 8800 Filme, aus denen Kruithof die mitreißende Dance-Enzyklopädie „Universal Tongue“ zusammengeschnitten hat. Im Museum dröhnen so zum Quietschen des Altmetalls jetzt auch tiefe Bässe durchs Haus. Sie liefern den Soundtrack für Kruithofs spektakuläre Party der Diversität in Bewegung. Es ist ein ausgelassener Gegenentwurf zu Tinguelys morbidem Schattenmaschinentheater im Nebenraum. Auf acht von der Decke hängenden Screens sind Menschen zu sehen, die auf Balkonen, Hinterhöfen und Trottoirs tanzen, in Hallen und Fluren, selbstvergessen oder extrovertiert, alleine oder in Gruppen, völlig entfesselt oder in strenger Formation. Trotz der atemberaubenden Vielfalt des Materials lassen sich hier wiederkehrende Bewegungsmuster und rituelle Grundformen ausmachen, die Kruithof als Elemente einer universalen Grammatik der individuellen oder kollektiven körperlichen Ermächtigung beschreibt. Nicht ausgeschlossen, dass es genau diese Grammatik ist, die es unmöglich macht, zwischen den Screens stillzuhalten.