Shirin Neshat, Living on one Land, Dreaming in Another: Die Traumfängerin

Shirin Neshat, Installationsansicht, Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Haydar Koyupinar, © Shirin Neshat, Courtesy the artist, Gladstone Gallery, New York / Brussels, & Goodman Gallery, London / Capetown
Review > München > Pinakothek der Moderne
24. März 2022
Text: Jürgen Moises

Shirin Neshat: Living in One Land, Dreaming in Another.
Pinakothek der Moderne, Barer Str. 29, München.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr. Donnerstag bis 20.00 Uhr.
Bis 24. April 2022.
pinakothek.de
Zur Ausstellung erscheint Anfang April 2022 ein Katalog: Distanz Verlag, Berlin 2022, 210 S., 38 Euro | ca. 53.90 Franken.

Shirin Neshat, Land of Dreams, 2019, Videostill, © Shirin Neshat, Courtesy the artist, Gladstone Gallery, New York / Brussels, & Goodman Gallery, London / Capetown
Shirin Neshat, Marie Overstreet, aus der Serie „Land of Dreams“, Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Haydar Koyupinar, © Shirin Neshat, Courtesy the artist, Gladstone Gallery, New York / Brussels, & Goodman Gallery, London / Capetown

Eine Frau liegt zuhause im Bett. Sie erzählt von Soldaten, die gekommen wären und gesagt hätten: „Das ist nicht dein Land. Hast du das verstanden?“ Ein Mann, der bei der Armee war, berichtet von starkem Wind und schwarzem Regen. Eine Vision vom nuklearen Holocaust. Und ein Osteuropäer schildert seine Angst davor, dass die Erinnerungen an sein Heimat-Dorf verblassen. Das alles sind Träume, Alpträume, von denen diese Menschen berichten. Und zwar in einer Zwei-Kanal-Video-Installation, die in der Ausstellung „Living in One Land, Dreaming in Another“ von Shirin Neshat in der Münchner Pinakothek der Moderne zu sehen ist. Mit dem Krieg in der Ukraine hat das nichts zu tun. Aber man muss sofort daran denken. Was jedoch nur zeigt, dass wir uns in unseren Träumen, Albträumen und Ängsten am Nächsten sind. Das sieht tatsächlich auch die bekannte iranisch-amerikanische Künstlerin so, die sich seit Jahren mit Themen wie Identität, Herkunft und Machtstrukturen beschäftigt. Und die in den Neunzigern mit Foto-Serien und Videos über iranische Frauen bekannt wurde.

Erinnerungen sind ebenfalls sehr mächtig. „Sie lassen dich nie los“, hat Shirin Neshat in einem Interview gesagt. Und damit lieferte sie auch ein Stück weit die Erklärung dafür, warum sie sich bisher fast ausschließlich mit dem Iran beschäftigt hat. Dabei hat die heute 65-Jährige ihr Heimatland bereits 1979 verlassen und lebt seitdem in den USA. Aber ihre zweite Heimat hatte sie, zumindest direkt, noch nie thematisiert. In „Land Of Dreams“ ist das nun anders, ihrer neuen Werk­serie, zu welcher die erwähnte Video-Installation gehört. Weitere Teile sind eine Serie aus 111 Fotografien und ein gleichnamiger Kinofilm, der im letzten Jahr auf den Filmfestspielen von Venedig lief. Darin sind Stars wie Matt Dillon und Isabella Rossellini zu sehen sowie in der Hauptrolle die iranisch-amerikanische Darstellerin Sheila Vand. Sie spielt Simin, eine Künstlerin und ein Alter Ego von Neshat.

Auch in der Video-Installation tritt Simin auf. Als Künstlerin fährt sie nahe der US-Grenze mit einem alten Mercedes ein Navajo-Gebiet in New Mexico ab, um dort die Einwohner zu fotografieren und sie nach ihren letzten Träumen zu befragen. Die Traumberichte schreibt sie danach in Farsi-Kalligrafie auf die Fotos, ergänzt durch Namen, Ort und Geburtsdatum. Genau das hat auch Neshat getan und auf diese Weise sind die eindringlichen, eng aneinander gehängten Schwarzweiß-Fotos im Nebenraum entstanden. In der parallelen Filmhandlung erfährt man: Simin arbeitet als „Traumfängerin“ für den iranischen Geheimdienst, der eine geheime Kolonie (eine Traumfabrik?) in einem Berg, dem „Ship Rock“ hat. Das Ziel: Die Träume des Feindes zu kontrollieren. Im Kinofilm ist es dagegen die US-Regierung, die durch das Aufzeichnen der Träume ihre eigene Bevölkerung verstehen und kontrollieren will. Eine Parodie auf zumeist männliches Machtgebaren mit surrealen, David-Lynch-artigen Momenten, die gerade durch ihre Rätselhaftigkeit Sogwirkung entfalten. Im geradlinigeren Kinofilm scheint diese, wie man hört, verloren zu gehen.

An Lynch und anderen „Film-Surrealisten“ geschult wirkt auch das Video „Roja“ (2016), in dem eine junge Frau ihrer Nemesis in Form eines alten weißen Mannes begegnet. „Possessed“ (2001), in dem eine verwirrt wirkende Frau durch enge Gassen geistert, erscheint dagegen wie ein Horrorfilm. Beide Videos sind ergänzend in der Ausstellung zu sehen. Genauso wie die Fotoserien „The Book of Kings” (2012) und „The Home of My Eyes” (2015), die die Themen Freiheit, Revolution und Heimat im Iran und in Aserbaidschan verhandeln. Auch hier sieht man frontale Schwarzweiß-Porträts und kalligrafisch bemalte Körper. Eine Kombination, die inzwischen Neshats „Markenzeichen“ ist. In direkter Konfrontation wirkt das immer noch sehr eindrücklich, und die Werke haben weiterhin ihr Geheimnis. Denn die von Gelehrten und Schriftstellern stammenden Texte sind auf Persisch. Man steht befremdet davor. Wie bei einem Traum, einem Rätsel, das sich nicht auflöst.