Ulrike Grossarth: gibt es ein grau glühend?….
Badischer Kunstverein, Waldstr. 3, Karlsruhe.
Dienstag bis Freitag 11.00 bis 19.00 Uhr, Samstag und Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 6. Juni 2022.
www.badischer-kunstverein.de
Wenn man am Ende des Ausstellungsparcours vor dem Plakat der Gewerkschaft der polnischen Druckarbeiter steht, kennt man die beiden Frauen schon ein bisschen. 1927 kündigt es einige Tage nach Purim einen Maskenball in Lublin auf Polnisch und Jiddisch an. Vier Frauenköpfe mit einer Augenmaske sind um den Text platziert, sie wirken verwegen als sei ihre Identität etwas Spielerisches. In Ulrike Grossarths Ausstellung „gibt es ein grau glühend?…“ sind sie etwa in „Esther und Ruth / merchants unmasked“ zu sehen. Die Frauen sind in ein Stoffumhänge gehüllt, deren abstrakte Muster die Berliner Künstlerin im Museum in Lublin entdeckt hat, die eingefügten Darstellungen eines Damenstrumpfes und eines Eimers, der in einer Emailschüssel steht, sind Reproduktionen von Fotografien Stefan Kielsznias. Vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten hatte er das jüdische Viertel Lublins fotografiert, auf seinen Aufnahmen sieht man die unzähligen Geschäfte, die mit origineller modernistischer Reklame auf sich aufmerksam machten.
Der Badische Kunstverein widmet Ulrike Grossarth (*1952) eine umfassende Retrospektive, so dass sich nachvollziehen lässt, wie die Künstlerin ihre charakteristische Bildsprache anfangs aus Analogien entwickelt. In Berlin begann sie sich für die Relikte der NS-Zeit wie den Großdruckbelastungskörper und nicht verwirklichte Bauvorhaben zu interessieren wie die „Große Halle“.
Grossarth, die Tänzerin war bevor sie bildende Künstlerin wurde, war ihr Wohnort ein lebender Stadtkörper, in den vieles eingeschrieben war, aber nicht alles artikuliert wurde. Die Handlungen, die sich in diesem Raum manifestierten, sind und waren konkret und symbolisch zugleich. So zeichnete sie Ähnlichkeiten auf zwischen dem Großdruckbelastungskörper, Napfkuchen auf historischer Werbung und einem Foto als Beweisführung einer etwas unheimlichen Mentalitätsgeschichte. Seit 2006 hielt sich Ulrike Grossarth immer wieder für längere Zeit in Lublin auf. In einem Handwerksbetrieb in einem Hinterhof, der einst zum jüdischen Viertel gehörte, dann Teil des Ghettos wurde und mittlerweile gentrifiziert wird, mietete sie sich ein. Sie lud Lubliner ein, sich porträtieren zu lassen mit den gekreuzten Stoffballen, die sich so oft auf Kielsznias Fotos finden. Es war ein Tauschgeschäft, das die Gesetze der Marktwirtschaft aushebelte.
Grossarth experimentiert mit Bedeutungen und Kontexten. In der Installation „Bau II, rot/grün-grau“, die zwischen 1999 und 2001 entstanden ist und sich in Karlsruhe im Großen Saal ausbreitet, kombiniert sie wie in einem groß angelegten Experiment alles durch: rote und grüne eingemachte Kirschen, Wabenstrukturen, Papierrollen, Wandzeichnungen. Vor allem aber greift Grossarth, deren Einflüsse bei Marcel Duchamp, René Magritte und Marcel Broodthaers zu finden sind, auf eine historische Ikonografie zurück, die Bedeutung und Wissen produziert. Auf Kupferstichen von Johann Elias Ridinger über das Training von Pferden aus dem 18. Jahrhundert hat sie die Tiere eliminiert, so dass nun eine Bedeutungsebene fehlt. Manche Silhouetten sind aus Diderots und d’Alemberts Enzyklopädie – dem Projekt der europäischen Aufklärung ‒ kopiert. Hier sind es nicht selten wirtschaftliche Zusammenhänge, wie die aufkommende Heimarbeit, die sie aufgreift und verfremdet. „Labour/Epiphanie (falsches Wachsen)“ von 2002 ist eine derartige digitale Bearbeitung eines Kupferstichs aus der Enzyklopädie. Ein rothaariger Mann sitzt an einem Tisch und stellt etwas her, im Raum wachsen zwei Pflanzen, die in merkwürdigen Chiffren enden. Im Badischen Kunstverein hängen diese und ähnliche, die mitunter an Typografien oder Gesichter erinnern, aus farbigem Glas an der Wand. „Agenten“, so ist in einer Vitrine zu lesen, nennt Grossarth diese Figuren, die sie zeichnet, reproduziert oder selbst verkörpert. Man glaubt, mit ihnen manches Rätsel aufschließen zu können.