Koexistenzen der Bilder

Vivian Suter, Retrospektive, Ausstellungsansicht Kunstmuseum Luzern, Courtesy the artist, Foto: Marc Latzel
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4. Februar 2022
Text: Leon Hösl

Vivian Suter: Retrospektive.
Kunstmuseum Luzern, Europaplatz 1, Luzern.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch 11.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 13. Februar 2022.
www.kunstmuseumluzern.ch

Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen: Vivian Suter – Bonzo, Tintin & Nina, Hatje Cantz, Berlin 2021, 352 S., 50 Euro | ca. 96.90 Franken.
Mittwoch bis Freitag 12.00 bis 18.00 Uhr, Samstag 12.00 bis 16.00 Uhr.

Vivian Suter bei Karma International, Weststr. 75, Zürich.
Bis 19. März 2022.
www.karmainternational.com

Vivian Suter, Atelier, Panajachel, Guatemala, 2018, courtesy of the artist und Karma International, Zürich; Gaga, Mexico City; Gladstone Gallery, New York/Brüssel; Proyectos Ultravioleta, Guatemala City; Stampa, Basel, Foto: Flavio Karrer

Vivian Suters Malerei erschließt sich intuitiv und entzieht sich gleichzeitig. Ihre jüngsten Malereien präsentiert die in der Schweiz aufgewachsene, in Argentinien geborene und in Guatemala lebende Künstlerin freischwebend, in einer dichten, aber unregelmäßigen Hängung, die in Luzern zwei große Räume füllt. Diese raumerzeugende Präsentationsart ist spätestens seit der documenta 14 typisch für Vivian Suter (*1949). Schwebend entwickeln die großzügigen, farbreichen, fast ausschließlich ungegenständlichen Malereien einen Sog, der sofort wirkt und dafür sorgt, dass bereits nach wenigen Schritten, Schauen und Gehen zu einer fließenden, automatischen Bewegung werden. Die Leinwände kommen einem nah und werden buchstäblich greifbar, wodurch sie Auskunft geben können über den Ort und Prozess des Malens: Erdreste, knittrige Stellen, Schlammspritzer, Haare werden sichtbar.

Die Retrospektive in Luzern bietet neben dieser immersiven Erfahrung noch andere Zugänge an, sich dem Werk von Suter zu nähern. Zu sehen sind ältere Werkgruppen, Malerei auf ausgeschnittenem Papier aus den 1980er Jahren, frühe Foto- oder Objektarbeiten oder Zeichnungen. Erstmals wird auch eine Serie von Papiercollagen ausgestellt, die in Basel entstanden ist und eine ähnliche Formsprache und teilweise Farbigkeit hat wie einige der deutlich jüngeren Malereien – gedrungene Ovale, unregelmäßige Kreise und Sicheln, Balken und achtförmig geschwungene Linien. Vor allem ist aber Suters aktueller Wohn- und Arbeitsort in der Schau sehr präsent. Durch Fotografien und den Film „Vivian’s Garden“ (2017) der Filmemacherin und Malerin Rosalind Nashashibi vermittelt sich eine Ahnung vom Charakter dieses Ortes in Panajachel, Guatemala. In ihrem Atelier inmitten des tropischen Regenwalds entstehen die Malereien teilweise im Freien oder werden der Witterung ausgesetzt, manchmal auch in der Erde vergraben. Die Umgebung nimmt sogar bildnerischen Einfluss, wenn beispielsweise ein Schattenwurf auf der Leinwand die Künstlerin dazu motiviert eine Komposition zu verändern. Durch diese unmittelbaren Einschreibungen des Ortes sind die Arbeiten „nicht Erinnerungen an bestimmte Augenblicke, sondern selbst materielle Zeugnisse“, wie Adam Szymczyk im umfangreichen Katalog schreibt. Obwohl für Suter, auch das ist dort zu lesen, diese Bilder durchaus persönliche Erinnerungen transportieren, beispielsweise an den Tag bevor ihre Mutter im vergangenen Jahr starb, die Künstlerin Elisabeth Wild, mit der sie zusammenlebte und deren Papiercollagen ein eigener Raum gewidmet ist. Doch es geht Suter nicht darum, solche Erinnerungen in ihren Bildern nachvollziehbar zu machen.

Die einzelnen Arbeiten tragen keine Titel, darüber hinaus ist das gesamte Werk nur lückenhaft datiert. Diese Malerei transportiert keine Geschichten, keine singuläre Subjektivität, keine Biografie. Vielmehr ist sie der Ausdruck eines Zusammenspiels von Beziehungen: zu sich selbst und zur eigenen Bildsprache sowie zur Umgebung, den Mitmenschen und -tieren, der Umwelt. Diese Koexistenzen sind geprägt von gegenseitiger Anpassung und Prägung: die Künstlerin, ihre Mutter, das feuchte Klima, das Sonnenlicht, die Hunde Bonzo, TinTin & Nina, auch die Stürme, die schon zweimal das Atelier mit Schlamm überzogen haben – sie alle greifen an diesem Ort ineinander. Dabei schlägt sich nicht nur die Umgebung auf der Bildfläche nieder, auch die Malerei hinterlässt Spuren. Etwa wenn eingegrabene Arbeiten so lange im Garten vergessen werden, bis die Leinwände verrotten. Oder sich die Farbe verselbstständigt und auf die Hauswände trifft: die Foto-Serie „Malgeister“ fängt diese Zufallsbilder ein, wenn Spuren des Malprozesses neue Bilder entstehen lassen. Die Beziehungen dieses Ortes schlagen sich auf den Leinwänden nieder, ohne diesen abzubilden. Stattdessen entsteht ein neuer Ort voller schwebender Bilder, den man besuchen und sich darin verlieren kann.