Gruppendynamik. Kollektive der Moderne

Tayo Adenaike, Thinker (Our Thoughts differ), 1986, Foto: Peter Wolff, 2021,© the artist
Review > München > Städtische Galerie im Lenbachhaus
20. Dezember 2021
Text: Jürgen Moises

Gruppendynamik – Kollektive der Moderne.
Lenbachhaus, Luisenstr. 33, München.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis18.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 24. April 2022.
www.lenbachhaus.de

Tarsila do Amaral, A Cuca, 1924, © Tarsila do Amaral Licenciamento e Empreendimentos Ltda, Foto: Yves Chenot

Ihre Arbeiten spiegeln Solidarität und Gemeinschaft in der Pandemie wider. Mit diesen Worten begründete die Jury des Turner-Preises die Tatsache, dass sie in diesem Jahr nur Kollektive nominiert hatte. Gewonnen hat den Preis das Array Collective aus Belfast. Auch die kommende Documenta wird von einer Künstlergruppe, der Ruangrupa aus Indonesien, kuratiert. Was zeigt: Der Kollektivgeist liegt in der Luft. Und es ist nicht das erste Mal, dass sich Künstler in turbulenten Zeiten gemeinsam für sozialen Wandel engagieren. Wer Beispiele dafür sucht, wird in der Ausstellung „Gruppendynamik – Kollektive der Moderne“ im Münchner Lenbachhaus fündig, das damit an die seit März laufende Schau „Gruppendynamik – Der Blaue Reiter“ andockt. Beide sind Teil der Initiative Museum Global der Kulturstiftung des Bundes, die anregen will, die jeweilige museale Arbeit in eine globale Perspektive zu rücken.

Das Lenbachhaus hat dafür fünfzehn internationale Kollektive ausgesucht, die beispielhaft für „eine überraschende Fülle an kollektiven Prozessen und Gruppenbildungen“ stehen, welche das siebenköpfige Kurator*innen-Team für die Zeit ab etwa 1900 ausgemacht hat. Diese standen mit diversen anderen Modernisierungsprozessen sowie mit antikolonialen Befreiungskämpfen in Verbindung. Und tatsächlich soll es hier vorwiegend um diese historischen Hintergründe gehen und nicht um eine Stilgeschichte oder einen „Wettstreit der Ästhetiken“. Das zeigt schon das über drei Wände reichende Schaubild zu Beginn. Ausgehend von Themen wie „Sprache“ oder „Familie, Freundschaft, Liebende“ werden Verbindungslinien zwischen den Kollektiven gezogen, zu denen zur Verdeutlichung der „Universalität“ etwa auch der Blaue Reiter oder die Gruppe S.P.U.R. zählen.

Von da an geht es hinaus in die Welt. Und wer die Geschichte der Moderne vor allem als europäische und nordamerikanische kennengelernt hat, wird etwa verblüfft feststellen: Auch in Japan hat man bereits um 1920 expressionistisch oder kubistisch gemalt. Dabei haben Künstlergruppen wie „Akushon“ oder „Mavo“ europäische Kunst aber nicht einfach kopiert, sondern sie mit eigenen, traditionellen oder neuen Motiven oder Techniken verbunden. Die Artistas del Pueblo griffen im Argentinien der 1920er auf den Expressionismus oder einen brutalen Naturalismus zurück, um ihre sozialen Anliegen zu formulieren. Und sie sahen sich dabei im Clinch mit den Martínfierristas, die eher für eine L’art pour L’art im Zeichen einer propagierten kosmopolitischen Moderne standen. 

Die Casa Blanca School entstand nach der Unabhängigkeit Marokkos im Jahr 1956. Die Werke von Künstlern wie Mohamed Melehi repräsentieren eine spezifisch marokkanische Moderne, die durch kräftige Farben und eine eigenständige Formensprache beeindruckt. Auch die Nsukka School in Nigeria steht eng mit politischen Unabhängigkeitsbestrebungen in Zusammenhang. Ähnlich ist es bei der Bombay Progressive Artists’ Group und dem Lahore Art Circle oder den „Crystalists“ und der „Khartoum School“ aus dem Sudan. Für letztere ist Ibrahim El-Salahi ein beeindruckendes Beispiel. Die ausgemergelten Gestalten auf seinem Gemälde „Beerdigung und der Halbmond“ (1963) stehen für den Versuch, das eigene kulturelle Erbe zu modernisieren und waren 2016 auch in der Ausstellung „Postwar“ im Haus der Kunst zu sehen.

Die chinesische „Gruppe ohne Namen“ befand sich schon dadurch in der Opposition, dass sie teilweise abstrakt und „en plein air“ malte. Und die „Gruppe neuer Maßstab“ verfolgte in China eine radikale Konzeptkunst. Präsentiert wird das alles in Form von Gemälden, Fotos, Manifesten oder Zeitschriften, verteilt auf vierzehn Räume, nach denen einem doch ziemlich der Kopf schwirrt. Gleichzeitig hätte man von einzelnen Gruppen gerne noch mehr erfahren und vor allem gesehen. Trotzdem: Die Spuren sind gelegt, das Bewusstsein ist im Sinne des Blauen Reiter historisch erweitert. Und vielleicht hilft dieser überindividuelle Blick ja auch bei den globalen Problemen in der Gegenwart weiter.