Heidi Bucher, Metamorphosen: „Ich war das, was mich umgeben hat“

Heidi Bucher, Kleines Glasportal (Sanatorium Bellevue, Kreuzlingen), 1988, Ausstellungsansicht Haus der Kunst, München, 2021, Foto: Markus Tretter, © The Estate of Heidi Bucher
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10. Dezember 2021
Text: Jürgen Moises

Heidi Bucher. Metamorphosen.
Haus der Kunst München. Prinzregentenstr. 1, München.
Montag, Mittwoch, Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag bis 22.00 Uhr, Freitag und Samstag bis 20.00 Uhr.
Bis 13. Februar 2022.
www.hausderkunst.de

Heidi Bucher, Metamorphosen, Ausstellungsansicht, Foto: Markus Tretter, 1978, Foto: Hans Peter Siffert, © The Estate of Heidi Bucher
Heidi Bucher, Bodyshells, Venice Beach, Kalifornien, 1972, Filmstill, © The Estate of Heidi Bucher
Heidi Bucher beim Häutungsprozess von Herrenzimmer, 1978, Foto: Hans Peter Siffert, © The Estate of Heidi Bucher

Die menschliche Haut, sie ist nicht nur ein schützender Mantel. Sie ist ein großflächiges Organ, welches das Gefühl des Schmerzes reguliert. Sie einem Menschen abzuziehen, das wäre in der Realität ein barbarischer Akt. Metaphorisch bedeutet es, jemanden zu übervorteilen, das heißt in der Position des Mächtigen zu sein. Auch Räume, Häuser und Wände haben Häute. Zumindest sah das Heidi Bucher (1926-1993) so. Sie zu häuten, das war für sie aber kein barbarischer Akt, sondern einer der Befreiung. Von Konventionen, Zwängen, von dem, was verdrängt, vernachlässigt oder verschwendet wurde, was versunken, verflacht, verödet, was vergessen, verfolgt oder verwundet war. „Ich war das, was mich umgeben hat“, so lautete die Philosophie der Schweizer Künstlerin, der das Münchner Haus der Kunst mit „Heidi Bucher. Metamorphosen“ eine beeindruckende Retrospektive widmet.

Die Haut von den Räumen abzuziehen, von den Wänden, Fenstern, Türen, zuweilen auch von Betten oder Schubladen, das war aber nur ein Teil der (Los-)Lösung. Hinzu kam das Bestreben, die Häute weich, dünn, leicht und transparent zu machen und im Idealfall schweben zu lassen. Genau das kann man in der Ausstellung sehen. Da liegen abgezogene Häute auf dem Boden, hängen an der Wand oder schweben an Schnüren über dem Kopf oder auf Augenhöhe. In manche kann man hineingehen, weil sie zu kompletten „Haut­räumen“ geformt wurden. In dem Zweieinhalb-Minuten-Film „Hautraum“ von 1981 geschieht sogar das Wunder und der selbige fliegt und tanzt (mithilfe eines Baukrans) durch die Luft. Im Haus der Kunst läuft der Film nicht, sondern auf Youtube, das in Sachen Bucher eine wahre Fundgrube darstellt. Dort kann man Dokumentationen aus dem Fernsehen entdecken und welche, die Buchers Söhne gedreht haben.

Auch in der Ausstellung gibt es Filme, die sehr eindringlich den Akt der Häutung dokumentieren. Der sah so aus, dass Bucher Gaze mithilfe von Fischkleister an den Wänden fixierte und sie mit flüssigem Latex bestrich, um die getrockneten Schichten dann unter starker physischer Anstrengung abzuziehen. In den Filmen sieht man sie teilweise fast verschwinden in den Häuten, die meist eng mit ihrer Biografie in Verbindung stehen. So hat Bucher zunächst ihr Atelier in Zürich gehäutet, eine alte Metzgerei mit Kühlraum, danach das Elternhaus in Winterthur und darin vor allem das sogenannte „Herrenzimmer“. Später folgte das Ahnenhaus der Großeltern, bevor sie ihre Technik dann auf Orte wie das Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen oder die Ruine des Grande Albergo in Brissago (im Faschismus ein staatliches Internierungslager) am Lago Maggiore übertrug. 

All diese Orte stehen für (patriarchalische) Machtstrukturen, unter denen Bucher als Frau und Künstlerin litt und die auch ein Grund für die zu Lebzeiten fehlende Anerkennung waren. Als Adelheid Hildegard Müller 1926 in Winterthur in ein gutbürgerliches Haus geboren, studierte sie statt Kunst Mode an der Zürcher Kunstgewerbeschule, wo Johannes Itten einer der Lehrer war. In einer Vitrine sind frühe Modeentwürfe zu sehen. Sie zeichnet für Zeitungen und Magazine, 1954 geht sie nach New York, arbeitet in den legendären World House Galleries und stellt dort 1958 Seidencollagen und Zeichnungen aus. Zurück in Zürich lernt sie 1960 den Künstler Carl Bucher (1930-2015) kennen, in dessen Schatten sie jahrelang steht. Sie bekommen zwei Söhne, gehen 1969 nach Kanada und Kalifornien, wo Heidi Bucher in Kontakt mit der feministischen Kunstszene kommt. Sie erstellt die trag- und tanzbaren Körperskulpturen „Bodyshells“, die von Meerestieren inspiriert sind, und stößt auf Perlmutt als ein auch für später wichtiges Material. Zurück in der Schweiz trennen sich 1973 die Wege des Paares. Heidi Bucher macht eine Metzgerei zum Atelier und Wohnort und beginnt mit ihren Häutungen. Später werden auch Wasser und Ökologie wichtige Themen dieser bedeutenden Nachkriegskünstlerin, die wie zuvor auch Phyllida Barlow im Haus der Kunst nun endlich die verdiente Würdigung erfährt.