Radical Gaming: Den Raum des Videospiels politisieren

Nicole Ruggiero, How The Internet Changed My Life – Franziska von Guten, 2021, © Nicole Ruggiero, Daniel Sabiod
Review > Basel > Haus der elektronischen Künste
29. September 2021
Text: Dietrich Roeschmann

Radical Gaming – Immersion, Simulation, Subversion.
Haus der Elektronischen Künste, Freilager-Platz 9, Münchenstein / Basel.
Mittwoch bis Sonntag 12.00 bis 18.00 Uhr. Bis 14. November 2021.
www.hek.ch
Katalog: Chr. Merian Verlag, Basel 2021, 192 S., 25 Euro | ca. 26 Franken.

Theo Triantafyllidis, Pastoral, 2019, Courtesy the artist and The Breeder Gallery, Athens
Cassie McQuater, Black Room, 2017ff., Courtesy the artist

Es ist warm, es riecht nach Stroh, und eigentlich fehlt nur noch das Plätschern eines Bachs, um die ländliche Idylle perfekt zu machen. Stattdessen dringen R’n’B-Bässe und Autotune-Stimmengewirr aus den dunklen Ausstellungsräumen im Basler Haus der Elektronischen Künste (HEK). Zwischen ein paar echten Heuballen hat Theo Triantafyllidis hier sein Videospiel „Pastoral“ installiert, Controller liegen bereit. Spielfigur ist ein transsexueller Ork mit dickem Zopf und Muskelbergen, die sich unter dem Bikini spannen, wenn er sich gemächlich durch animierte Wiesen und Felder bewegt, vorbei an friedlichen Fantasy-Wesen am Wegesrand. Gut, und dann? Nichts dann – mehr als Müßiggang wird hier nicht passieren. Denn genau das ist es, was HEK-Kurator Boris Magrini interessierte, als er den jungen Griechen als einen von 15 internationalen Kunstschaffenden zu der Gruppenschau „Radical Gaming“ einlud. Triantafyllidis taucht tief ein in die Ästhetik der Game-Welt, bricht zugleich aber mit ihren Stereotypen, mit den Männlichkeitsklischees und der Wettkampflogik, verweigert die Aufgabe, Punkte zu sammeln und besser zu sein als die anderen. Das ist es, was Magrini unter Radikalität versteht. Statt das Spiel der Idee des Gewinns unterzuordnen, möchte Triantafyllidis den Blick für alternative Erfahrungen in der virtuellen Welt öffnen.

Ausgehend von dieser Idee entwickeln auch die anderen Arbeiten der Ausstellung eher ungewöhnliche Perspektiven auf das Videogame, das längst ein nennenswerter Wirtschaftsfaktor ist – allein 2020 setzte die Branche mit 138 Milliarden Euro weltweit mehr als dreimal so viel um wie der Kunstmarkt – und zuletzt sogar vom Deutschen Kulturrat zum „Leitmedium des 21. Jahrhunderts“ erklärt wurde. Die Beteiligten der Basler Schau haben einen ausdrücklich künstlerischen Ansatz. Im Vordergrund steht nicht das Spielen allein, sondern die Auseinandersetzung mit seinen Bedingungen und Möglichkeiten. Und mit Fragen, etwa wie Gaming unsere Wahrnehmung der Welt verändert, oder die Art, wie wir Entscheidungen treffen. Immersion wird dabei oft genutzt, um den Raum des Spiels zu politisieren. Ort dieser Reflexion an der Konsole ist in Basel eine laute, bunte Indie-Spielhölle, angelegt als verschlungener Parcours entlang aufwendig inszenierter Spielstationen, gesäumt von wandfüllenden Screens oder Old-School-Monitoren, Sofas und bizarren Gamer-Möbeln. Dazwischen öffnen sich dunkle Kojen in politische Abgründe, wie etwa in „Skolkovo“, der virtuellen Rekonstruktion eines realen Tech-Parks in Moskau, in dem die russische Künstlerin Sara Culmann die Spielenden in eine investigative Recherche über Korruption und Finanzspekulation verstrickt. Nebenan lädt Miyö Van Stenis zwischen mit Sex Toys verzierten Pool-Dance-Stangen in ihrem Multiplayer-Spiel „Eroticissima“ dazu  ein, per VR-Brille unterschiedliche sexuelle Selbstentwürfe zu erkunden. Andere Games verknüpfen Genderfragen mit Identitätspolitik. Ausgangspunkt von Danielle Brathwaite-Shirleys „Resurrection Land“ etwa ist ein Archiv, in dem Erfahrungen schwarzer Transsexueller gesammelt sind, wodurch sich die Spielenden plötzlich mit Rassismus und Sexismus konfrontiert sehen. Und während Cassie McQuater mit „Black Room“ kaum beachteten weiblichen Nebenfiguren aus historischen Pixel-Games ein zweites Leben als postfeministische Heldinnen ermöglicht, porträtiert die New Yorker Künstlerin Nicole Ruggiero in ihrer VR-Arbeit „How The Internet Changed My Life“ bekannte Youtube-Stars und macht sich in der Grauzone zwischen Fakt und Fiktion Gedanken über die unkontrollierbaren Effekte bewusster Selbstinszenierung in den Sozialen Medien.

Eine ganz andere Erfahrung von Kontrollverlust ermöglicht das nicht-intuitive Spiel „Antraal“ von Sahej Rahal. Seine Fantasy-Wesen lassen sich nur per Mikrofon durch eine surreale Landschaft bewegen – doch das fühlt sich oft an wie der hilflose Versuch, sich in einer unbekannten Sprache verständlich zu machen. Auch wenn so nicht alle Spiele gleichermaßen zugänglich sind und man einige Zeit mitbringen sollte, um von Station zu Station in immer neue Welten einzutauchen, gibt „Radical Gaming“ einen spannenden Überblick über aktuelle Erzählweisen der Game Art und ihre Reflexionen kommerzieller Videospiele.