Ulrike Ottinger: Stille Sorgfalt und Feierlichkeit

Ulrike Ottinger, Ringer auf dem Fest des Hammelbrustknochens, aus: Taiga, 1991/92, Courtesy und © Ulrike Ottinger
Review > Bernau > Hans Thoma Museum
27. September 2021
Text: Dietrich Roeschmann

Ulrike Ottinger.
Hans Thoma Kunstmuseum, Innerlehen, Rathausstr. 18, Bernau.
Mittwoch bis Freitag 10.30 bis 12.00 Uhr, 14.00 bis 17.00 Uhr, Samstag bis Sonntag 11.30 bis 17.00 Uhr.
Bis 14. November 2021.
www.hans-thoma-museum.de

„Jeder Film hat die Länge, die er braucht“, sagte Ulrike Ottinger einmal. In einer winzigen Dachkammer im Hans-Thoma-Kunstmuseum in Bernau zeigt die 79-Jährige derzeit einen Werkblock von 1992 mit gut drei Dutzend Dokumentarfilmen unter dem Titel „Taiga“. Sehr schnell wird hier klar, wie Ottinger das meint mit dem Film, der bei ihr immer selbst entscheidet, wann es genug ist. Da ist zum Beispiel der Jäger Tscholoo. Ottingers Kamera begleitet den Mann auf seinem Ritt durch die mongolische Steppe, schaut ihm zwischen hohem Gras und niedrigem Buschwerk nach, wenn er vorbei reitet und ist immer schon da, wenn er Halt macht und dann aufmunternd in die Kamera lächelt, damit sie genau hinschaut, wie er sein Handwerk beherrscht. Ulrike Ottinger tut das mit einer stillen Sorgfalt und Feierlichkeit, als ginge es darum, sich ganz zu versenken in all die Handgriffe und Nebensächlichkeiten, die dem Abschuss eines Hasen vorausgehen – vom Absatteln und Auspacken der Tasche über das Sortieren von Riemen, Patronen und Messern bis hin zum Aufkochen des Milchtees, den er ausgiebig ziehen lässt, um ihn dann als Opfer in Gras zu schütten. Der Film endet, als Tscholoo alles gezeigt hat. Ottingers Neugier dagegen ist noch lange nicht gestillt. Volle 500 Minuten dauert „Taiga“, aber es braucht keine fünf Minuten, um in dieser Länge nicht die Herausforderung zu sehen sondern das Versprechen. Es ist dieses unablässige, großzügige Schweifen ihrer Kamera, mit dem Ottinger jede noch so kleine Handlung in ihrer Bedeutung für das große Ganze würdigt, den engen Räumen der niedrigen Holzhäuser eine ungeahnte Offenheit verleiht und in der schwindelerregenden Weite der Landschaft Momente von Geborgenheit entdeckt, das ihre Filme zu berührenden Meditationen über Kultur als universelles Instrument der Orientierung des Menschen in Zeit und Raum macht. 

Anlass für Ottingers Soloschau in Bernau ist die Verleihung des diesjährigen Hans-Thoma-Preises an die in Konstanz geborene Künstlerin, die seit Anfang der 1970er Jahre mit ihrem sich konsequent als weiblich reflektierenden Blick auch international bekannt wurde. Neben der Arbeit „Taiga“ ist in Bernau eine szenografische Gegenüberstellung von Porträts von Menschen aus Mexiko und der Mongolei zu sehen, gerahmt von folkloristisch anmutenden Federbildern, bemalten Vogelmobiles in Laubsägetechnik, Scherenschnitten von Totenkopfmotiven und mit Postkarten hinterlegten Schulweltkarten. Die holzschnittartige Konfrontation von Artefakten, deren Ursprungsort – Reisedestination oder Atelier? – im Vagen bleibt,  irritiert nur im ersten Moment. Ottinger geht es hier um das Sichtbarmachen von Gemeinsamkeiten zweier Kulturen, die auf den ersten Blick kaum etwas teilen, tatsächlich aber nur verschiedene Versionen der großen Menschheitsmythen erzählen und so Kultur als ständigen Transformationsprozess des Eigenen und Anderen begreifbar machen.