Anna Maria Maiolino, In the Sky I am alone and many and as a human I am everything and nothing: Gesten der Verletzlichkeit

Anna Maria Maiolino, De Para, 1974
Review > Basel-Muttenz > Kunsthaus Baselland
26. August 2021
Text: Iris Kretzschmar

Anna Maria Maiolino: In the sky I am one and many and as a human I am everything and nothing.
Kunsthaus Baselland, St. Jakob-Str. 170, Basel-Muttenz.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 26. September 2021.
www.kunsthausbaselland.ch

Anna Maria Maiolino, Sem título, aus der Serie: Leonardo Engenho-Fotopoemação, 2007, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland, 2021, Courtesy the artist & Galleria Raffaella Cortese, Milan, Foto: Gina Folly
Anna Maria Maiolino, Sem título, 1981
Anna Maria Maiolino, Construção / Jogo, 1973, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland, 2021, Courtesy the artist & Galleria Raffaella Cortese, Milan, Foto: Gina Folly

Die Künstlerin Anna Maria Maiolino hat mit fast 80 Jahren erstmals einen Auftritt in der Schweiz. Ihr Werk gehört zu den bedeutends­ten in Brasilien. Seit den Anfängen erforscht sie ihre Identität als Frau, Künstlerin und Emigrantin. Am Eingang liegt Presente, ihr (Online-)Magazin, mit Texten und Briefen, entstanden während der Pandemie zur Überbrückung der Einsamkeit.

1942 in Kalabrien geboren, zieht sie als Kind nach Venezuela, dann nach Brasilien, wo sie an der Escola Nacional de Belas Artes in Rio de Janeiro Holzschnitt und Malerei studiert. Sie ist gerade 22 Jahre als ein Umsturz zu einer blutigen Militärdiktatur (1964-1985) führt. Zusammen mit anderen Kunstschaffenden entstehen kritische Werke, die einerseits politische Geschehnisse, gleichzeitig übergeordnete Inhalte thematisieren. In einem Interview erzählt Maiolino: „Was mich am Laufen hielt, war meine hartnäckige Suche nach einer Sprache, meine Besessenheit, Künstlerin zu werden. (…) Mein Leben war von Angst und Zweifeln geprägt, obwohl ich auch an diesem Moment großer politischer, sozialer und künstlerischer Spannung teilhaben wollte, der Kunstschaffende dazu drängte, sich mit den vorherigen Generationen zu verbünden. Wir wollten eine autonome nationale Kunst entwickeln, weit entfernt von fremden Vorgaben und Modellen. Wir träumten von einem freien und autonomen Lateinamerika mit eigenen wirtschaftlichen Ressourcen (…).“ 1967 wird Maiolino zur Teilnahme an „Neue brasilianische Sachlichkeit“ eingeladen, eine Schau, die einen kulturellen Wandel in Brasilien begründet. 1968 zieht sie mit ihrem Ehemann nach New York.

Auftakt der Ausstellung ist ihre Rückkehr aus New York 1971. Ein lyrischer Text erzählt von Vereinigung, Lösung, Trennung und Neubeginn. Ihre Fotografien, Performance und Videokunst aus den 70ern zeigen Körperhaftes. Prekäres wird spürbar, Selbstverletzung angedeutet, wenn geöffnete Scheren, Nasen, Zungen und Augen bedrohen, scheinen Parallelen zu Marina Abramovic auf. Eine Serie von Lichtbildern setzt den Mund formatfüllend ins Geviert und macht Emotionen und Geschlecht deutlich. Ganz anders sind die Gesichter, die verschnürt oder brutal maskiert, Zensur oder Gewalt andeuten. Versöhnlich hingegen weibliche Hände, die vorsichtig tastend das schlafende Gesicht eines tätowierten Eingeborenen erkunden und so Kontakt zum Archaischen finden. „Por um Fio“ zeigt die Künstlerin zwischen Tochter und Mutter, durch Bänder im Mund verbunden.

Omnipräsent sind Eier. Als zerbrechliche Protagonisten erkunden sie die Welt. Ihre Fragilität mag metaphorisch für die menschliche Existenz stehen, oft tauchen sie in riskanten Positionen auf, wo sie beim Fall zerschellen könnten. Ein Ei liegt auf der Schwelle zwischen Tür und Angel – ein Zögern vor dem Unbekannten.

Ab 1989 beginnt Maiolino mit Ton zu arbeiten, der sie seit ihrer ersten Begegnung seiner Urtümlichkeit wegen fasziniert. Wie überdimensionierte Gewichte eines Webstuhls hängen ungleich lange Zapfen aus Ton an Seilen. Die irdenen Formen, in Rakutechnik gebrannt, sind ursprünglich und assoziativ. Jeder Kolben bewahrt eine geflammte Oberfläche, zeigt Spuren des Brennprozesses und die Beziehung zur Erde.

Mit einem letzten lyrischen Text outet sich Maiolino als Schwester der Plejaden, als Eine, Viele, Alles und Nichts zugleich. Eine Künstlerin, die in ihrer vielschichtigen Narration, Menschliches in Begegnung und Liebe findet, Zerbrechlichkeit mit Stärke beantwortet und die Verbindung von Erde und Kosmos ins Zentrum setzt.