Schweizer Skulptur ab 1945: Familienaufstellung

Klaudia Schifferle, Der nackte Akt, 1986, © 2021, ProLitteris, Zürich, Foto: Kunst(Zeug)Haus Rapperswil-Jona
Review > Aarau > Aargauer Kunsthaus
22. Juli 2021
Text: Iris Kretzschmar

Schweizer Skulptur seit 1945.
Aagauer Kunsthaus, Aargauerplatz, Aarau.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 26. September 2021.
www.aargauerkunsthaus.ch
Katalog bei Snoeck, Köln 2021, 320 S., 48 Euro | ca. 63.90 Franken.

Claudia Comte, Suspended Marble Banana (Study), 2019, © Claudia Comte, Foto: Roman März
Meret Oppenheim, Bauernfrau, auf dem Kopf einen Korb tragend, 1960, © 2021, ProLitteris, Zürich, Foto: Kunstmuseum Bern,
Installationsansicht Aargauer Kunsthaus, 2021, Foto: René Rötheli

Das Kunsthaus Aarau bietet momentan ausgiebig Gelegenheit, sich mit dem plastischen Schaffen der Schweiz auseinanderzusetzen. Es ist eine reichhaltige Schau, die neben vertrauten Namen wie Hans Arp, Germaine Richier, Max Bill und Meret Oppenheim bis zu Fischli/Weiss, Roman Signer, Sylvie Fleury und Ugo Rondinone auch weniger bekannte Positionen zeigt. Rund 230 Werke von 150 Kunstschaffenden wurden von den Kuratierenden, Peter Fischer und Anouchka Panchard, zusammengetragen – eine fruchtbare Auswahl, die neue Nachbarschaften entdecken lässt und dokumentiert, dass die Schweizer Plastik im internationalen Kunstkontext gut aufgestellt ist. Obwohl das skulpturale Schaffen lange als männliche Domäne galt, stammt ein Drittel der Exponate von Künstler:innen.

Im Foyer des Kunsthauses führt der Blick nach oben, wo der „Doppelflügel“ (1981) von Erica Pedretti schwebt und Rémy Markowitsch mit „FALL“ (2013), das Drama einer Klettermannschaft in den Museumsraum holt. Die fünf taumelnden Figuren an Seilen schweben kopfüber im leeren Raum und sind dem monumentalen Gemälde „Absturz“ (1894) von Ferdinand Hodler nachempfunden. Den Prolog eröffnen sieben unterschiedliche Werke.

Da weint Urs Lüthis frappierendes Selbstporträt „Tears“ (1971) für das Publikum. Dahinter hängen geheimnisvolle, blaue Tastsäcke (1979) von Doris Stauffer. Sie wurde 2019 als feministische Position und aufmüpfige Vermittlerin der F+F im Centre Culturelle Suisse in Paris wieder entdeckt. Silvie Fleurys schimmernder „Mushroom“ (2005) verführt mit seiner Oberfläche zu halluzinatorischen Gedankenflügen, während Markus Raetz’ poetische Arbeit „Ohne Titel (nach Man Ray)“ (1995/ 2005) eine entmaterialisierte Frau zwischen zwei Vasen tanzen lässt. Den Weg versperrt das monumentale, tönende X „Lessness“ (2003) von Ugo Rondinone und die Bronze „Fuck you“ (1991/1992) von Not Vital zeigt uns den Stinkefinger in Form einer Jagdtrophäe.

Ältere, klassisch gewordene Arbeiten aus schweren Materialien wie Stein, Bronze und Eisen bespielen die ersten Räume. Ab den 60er Jahren tauchen viele neue Werkstoffe und Ausdrucksformen auf. Lucie Schenker zeigt „Schnitt“ (1985), ein doppeldeutiges Objekt einer aufgeschlitzten Garnrolle. Schnur, Zeitungspapier und Spiegelfolie hat Liliane Csuka ornamental zum Wandrelief gefügt (2005). Im grossen Saal breitet sich ein Meer an vielfältigen plastischen Ausdrucksformen aus. Zwei riesige Figuren aus Styropor auf einem Holzgerüst, die „Geants“ (2015) von Latifa Echakhch, ragen wie mächtige Wachpos­ten aus der Menge. Die Künstlerin vertritt die Schweiz an der nächsten Biennale in Venedig. Interdisziplinäre Werke verbinden Töne mit Visuellem. So ist Andrea Wolfensbergers spiralartig aufgefächerte Skulptur „Welle“ (2011) etwa eine Verkörperung von Klängen. Ab und zu wird die Ruhe vom lauten Tröten des „Discours“ (2009) von Delphine Reist unterbrochen – eine Persiflage auf gewichtige Gespräche. Carmen Perrin hängt ausladende schwarze Gummimatten so auf, dass sie sich von selbst zu grossen spindelartigen Gebilden formen. „Life Jacket“ (2018) von Isabelle Krieg ist eine Bodenskulptur aus unzähligen getragenen Jacken von der Kindheit bis heute. Übereinandergeschichtet werden sie zu einer Art Schutzmantel und Höhle des Rückzugs.

Spannend präsentiert sich dieses weite Spektrum des plastischen Schaffens und zeigt, wie sich die Gattung in Bezug auf Motiv, Material und Technik in den vergangenen 70 Jahren aufgefächert hat.