Lucy McKenzie: Das Imitat als Strategie

Lucy McKenzie, Top of the Will, 1998/1999, Privatsammlung, Wien, Foto: Kristien Daem
Review > München > Museum Brandhorst
8. März 2021
Text: Jürgen Moises

Lucy McKenzie: Prime Suspect.
Museum Brandhorst, Theresienstr. 35 a, München.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr. Donnerstags bis 20 Uhr.
Bis 6. Juni 2021.

www.museum-brandhorst.de

Katalog:
Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2020, 336 S., 49,95 Euro / ca. 61.90 Franken.

Lucy McKenzie, Mooncup, 2012, Detail, Collection Nicoletta Fiorucci Russo, London
Lucy McKenzie, Violet Breche Desk, 2015, © Lucy McKenzie, Foto: Jens Ziehe, Courtesy the artist, Cabinet, London, and Galerie Buchholz, Berlin/Köln/New York
Lucy McKenzie, Global Joy II, 2001, Sammlung Alexander Schröder, Foto: Lothar Schnepf

Es ist gar nicht so lange her, da erschien die Kunstgeschichte wie ein Buch mit abgeschlossenen Kapiteln. Die Kunstwerke waren kanonisiert und katalogisiert, und bei Vielem wirkte es so, als gäbe es dazu nichts Neues mehr zu sagen. Durch die postkoloniale, feministische oder Provenienzforschung hat sich das geändert. Die Buchsiegel wurden wieder aufgebrochen, Kunstschaffende und Werke neu auf den Prüfstand gestellt. Und wer als alter Meister bisher als unangreifbar galt, kann nun zu einem „Prime Suspect“, einem Hauptverdächtigen in einem kunstgeschichtlichen Prozess werden. Auch immer mehr Künstler und Künstlerinnen docken sich hier an, arbeiten mit ihren eigenen Mitteln an einer alternativen Kunstgeschichte und brechen von Museen, Historikern oder Sammlern liebgewonnene Traditionen auf.

Dazu gehört auch die 1977 in Schottland geborene und in Brüssel lebende Lucy McKenzie, der das Museum Brandhorst in München mit „Prime Suspect“ derzeit eine erste große Retrospektive widmet. Was dort in Form von 80 Arbeiten aus 20 Schaffensjahren zu sehen ist, mutet in der Tat oft wie das Ergebnis einer detektivischen Forschungsarbeit an. Dabei ist es speziell die Geschichte der Moderne und Avantgarde, welche McKenzie kritisch unterwandert. Wofür sie neben Kunst, Architektur, Design auch Literatur, Musik, Film, Mode, Politik und Sport mit einbezieht. Wie etwa in frühen Arbeiten wie „Top of the Will“ (1998/99), für die sie sich und ihre Freundinnen in Turnuniformen im Stil sowjetischer Mannschaften der 1970er-Jahre fotografieren ließ und die Bilder durch historisches Quellenmaterial ergänzt hat. In einem freien Spiel aus Fakt und Fiktion, Fantum und forensischer Analyse.

Die Nachahmung, sie gehört wie das Aufgreifen vergangener, vergessener und oft zugunsten der Moderne abgewerteter Stile, Techniken und Gattungen zu McKenzies Strategien. Das kann der in der DDR durch Postkarten oder Briefmarken verbreitete sozialistische Realismus eines Walter Womacka sein, den sie im Gemälde „Global Joy II“ von 2001 imitiert und dabei zugleich auf Gerhard Richters Gemälde „Kerze“ anspielt, das durch das Cover eines Sonic Youth-Albums populär wurde. Ein Kurzschluss zwischen Pop und Politik. Die Frage, wer hier wen vereinnahmt, ist nicht so leicht zu beantworten. Ein vergleichbares Spiel treibt McKenzie mit dem Wandgemälde „If it Moves, Kiss It I“ von 2002, welches ein Wandbild imitiert, das Stanley Kubrick für den Film „Clockwork Orange“ anfertigen ließ und das, wie sich später herausstellte, auf Werken von Fritz Erler aus der Nazizeit beruht.

Groß dimensioniert ist auch das Titelbild der Ausstellung: Das psychedelische Gemälde „Mooncup“, das sich, nachdem man das Video „The Girl Who Followed Marple“ gesehen hat, als Werbebild für eine Menstruationstasse entpuppt. Für „May Of Teck“ hat McKenzie drei Wände eines Londoner Wohnhauses lebensgroß abgemalt und daraus ein in den Raum ragendes Interieur gebildet. Und mit den nachgebildeten Wänden von „Loos House“ führt sie die heimliche Liebe des Ornament-Gegners Adolf Loos zu üppigem Dekor vor. Das Imitieren treibt KcKenzie mit ihren „Quodlibets“ auf die Spitze: Fotorealistischen Kunstwerken, die Briefe, Bücher oder Karten darstellen oder Pinnwände und ganze Möbel „imitieren“. Und das meist mit gewitzten (kunst)historischen Bezügen, geschaffen in einer Technik, die selbst historisch ist. Die subversive Art, mit der sich McKenzie an den Rändern der Kunst und Kunstgeschichte abarbeitet, wirkt dabei wie ein in sich stimmiges System, ist aber zugleich nah am aktuellen Retro-Zeitgeist. Und sie lässt sich möglicherweise auch ein Stück weit aus ihrer Biografie heraus erklären. Denn McKenzie entstammt einer schottischen Künstlerfamilie. Und das Aufgreifen von „randständigen“ oder marginalisierten Praktiken ließe sich als Versuch sehen, sich auf diese Art von den Vorgängern, Traditionen oder bestehenden Erwartungen zu emanzipieren. Falls das stimmt, ist ihr das auf eine beeindruckende Weise gelungen.

[Jürgen Moises]