Kader Attia: Die Zeit heilt keine Wunden

Review > Zürich > Museum Rietberg
30. September 2020
Text: Katrin Bauer

Kader Attia: Remembering the Future.
Kunsthaus Zürich, Heimplatz 1, Zürich.
Dienstag, Freitag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch und Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 15. November 2020.

www.kunsthaus.ch

Die Ansicht, dass Museen aufgrund der Coronakrise keine Zwangspause, sondern vielmehr eine Renaissance im Sinne längst notwendiger Dekolonisierungsdebatten erleben, lässt sich gegenwärtig anhand musealer Veranstaltungsformate beobachten, die sich solidarisch im Zuge der „Black Lives Matter“-Bewegung zum Thema des strukturellen Rassismus positionierten. Parallel dazu rückten jedoch erneut europäische Museen als Komplizen neokolonialer Interessen in die Kritik, sodass weiße Kulturinstitutionen nun unter einem gewissen Druck stehen.

Mit „Remembering the Future“ reagiert das Kunsthaus Zürich aus einer dekolonisierenden Perspektive heraus zu eben diesem Diskurs. Die erstmals in der deutschsprachigen Schweiz gezeigte Ausstellung des franko-algerischen Künstlers Kader Attia (1970) versammelt bis zu 38 Skulpturen, Fotografien, Videos und Installationen, die bewusst unbequem an Europas kolonialer Vergangenheit rütteln. Mit seinen Werken bringt Attia Konflikte zum Ausdruck, in denen „Reparatur“ als künstlerisches Leitmotiv den Ton angibt. Die raumgreifende Installation „La Mer Morte“ (2015) beispielsweise, ein sprichwörtliches Meer aus sanft blauen Kleidungsstücken, spült sich körperlos vor die Füße des Publikums, wohingegen im darauffolgenden Ausstellungsraum das mit Hegemonie durchdrungene Dilemma des ethnographischen Sammelns vielstimmig diskutiert wird. Mit dieser für das Kunsthaus Zürich erarbeiteten Videoinstallation „Les entrelacs de l’objet“ dezentralisiert Attia seine künstlerische Autorschaft, indem er Anthropologinnen und Expert*innen bezüglich längst hinfälliger Restitutionsmaßnahmen von Seiten europäischer Museen unkommentiert zu Rede kommen lässt. Dabei lenkt der Künstler unseren Blick auch auf die Wunden vergangener und aktueller Weltgeschehnisse.

Dass Wunden meist Narben hinterlassen, gilt für viele als unerwünschte Folge. Obgleich diese einer seelischen Verletzung oder eines physischen Gewalteinflusses entspringen – laut Attia besteht die ganze Illusion der Moderne darin, dass wir denken, unsere Verletzungen kontrollieren und auslöschen zu können: „Geht in der westlichen Gesellschaft etwas kaputt, verändern oder reparieren wir es, sodass die Verletzung entfernt wird oder sogar ganz verschwindet. In ‘traditionellen’ Gesellschaften hingegen, bedeutet der Akt des Reparierens einem Objekt ein neues Leben oder Form zu geben, die Spur der Verletzung aber dennoch zu bewahren.“

Dem Künstler geht es nicht um das Auslöschen von Wunden, vielmehr interessiert ihn das zur Disposition stellen von Verletzung und dessen Reparatur, im physischen wie auch im philosophischen Sinne. „Remembering the Fu­ture“ intendiert demnach keine ästhetische Unterhaltung, sondern eine moralische Auseinandersetzung mit postkolonialen Forderungen. Das Publikum erfährt dadurch auch, dass westliche Wissensproduktionen auf kolonialisierenden Praktiken basieren und sich ethnologische Museen – aufgrund ihrer kolonialen Kodierung – einer Reevaluierung der eigenen Sammlungspolitik annehmen müssen. Attia verdeutlicht damit nicht zuletzt auch die Mentalität westlicher Überheblichkeit, indem seine Werke direkt in Europas Mark der Erinnerung treffen, der Schleier des Vergessenen folglich enthüllt und die Frage der Schuld plötzlich vor uns im Raum steht.

Die Kuratorin Mirjam Varadinis konzipierte mit Kader Attia für die kommenden Monate drei Publikationen zur Ausstellung sowie ein diskursives Veranstaltungsprogramm. Am 1. November 2020 findet in diesem Rahmen das Symposium „Die postkoloniale Schweiz“ im Kunsthaus Zürich statt.