Julian Charrière: Der Künstler ist im Bild

Review > Aarau > Aargauer Kunsthaus
1. Oktober 2020
Text: Isabel Zürcher

Julian Charrière: Towards No Earthly Pole.
Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz, Aarau.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 3. Januar 2021.

www.aargauerkunsthaus.ch

Katalog:
Mousse Publishing, Milano 2020, 306 S., 35 Euro.

Die Projektion hat Spielfilmlänge und führt unter tiefem Rauschen, Knarren, Dröhnen direkt an den Rand der Welt. Dort herrscht dunkle Nacht. Was immer der Blick von der langsam vorbeiziehenden Topografie erfassen kann, erzählt von Kräften, die ohne direkte menschliche Einwirkung Wasser und Eis in Bewegung halten. „Towards No Earthly Pole“ heisst Julian Charrières jüngste Filminstallation. Bilder aus verschiedenen Eisregionen der Welt hat der Künstler zu einer überwältigenden Kamerafahrt aufgemischt. In ihren monumentalen Dimensionen und in Tuchfühlung mit geologischen Prozessen trifft sie den Nerv eines heutigen Zeitgefühls: So könnte es aussehen, wenn der Globus nach Ableben des Homo Sapiens sein Gleichgewicht zurückerobert. So hat es vielleicht ausgesehen, bevor Himmel und Erde sich für lange trennten.

An der Medienkonferenz im Aargauer Kunsthaus Anfang September bedankte sich Julian Charrière bei seiner Crew, bevor er inhaltlich auf diese Arbeit einging. Ohne deren Unterstützung wäre das alles gar nicht möglich gewesen. Das Ermitteln geeigneter Landschaften, der Unterhalt der Drohnen und des gesamten technischen Equipments, das Biwakieren bei extremen Minustemperaturen. Der 32-jährige Künstler bleibt, wenn er die Ambition des Projekts aufrollt, ein kollegialer Zeitgenosse. Der Druck, den ihm eine Vita des Erfolgs und die Unterstützung mehrerer international tätiger Galerien auferlegten, scheint ihn vom Kurs nicht abzubringen. Im Gegenteil: Der Expediteur und Feldarbeiter, Forscher, Entdecker und Entwickler Julian Charrière bewahrt seine schier bübische Freude daran, unseren fatalen Einfluss auf das globale Gleichgewicht in hinreissend schönen Bildern und Objekten vor Augen zu führen.

Charrières erste grössere Retrospektive im Aargauer Kunsthaus setzt ganz auf die verführerische Qualität seiner Kunst. Raum für Raum liegt einem der Begriff „Natur“ auf der Zunge. Farbaufnahmen von Sandstränden im Bikini-Atoll stellen gleich zu Beginn das Ferientraumbild vor; eine mächtige Vitrine löst zauberhafte Eisblumen aus dem verdunkelten Raum; schimmerndes Lavagestein wirft die Frage auf nach Herkunft, Alter, Zusammensetzung vermeintlich geologischer Fundstücke. Dabei trügt der Schein. Charrières Bilder, seine Gegenständlichkeit und Arrangements sind ummantelt von Geschichten, die dem Vertrauen in einen originalen Zustand von Raum und Materie zuwiderlaufen. Radioaktiver Inselsand, kontaminiert durch US-amerikanische Tests von Wasserstoffbomben in den 1940er und -50er Jahren, hinterlässt weissen Nebel auf dem Farbfilm des Palmen-Idylls im Pazifischen Ozean. Flüssiger Stickstoff verspricht das Erbgut von Pflanzen zu konservieren, deren Überleben nach Millionen Jahren nicht mehr ohne Weiteres gesichert scheint. Das sorgfältig beleuchtete Mineralien-Kabinett schürt zwar die Faszination für Gesteinsproben, exponiert aber etwas anderes, weit Jüngeres: Die Hochöfen des deutschen Stahlherstellers Thyssen-Krupp haben Laptop- und Smartphone-Komponenten zum Schmelzpunkt getrieben. Wie gern würden wir glauben, dass ihr Rückstand die Qualität des Natürlichen annimmt!

Der Künstler ist im Bild. Globale Ungleichgewichte führen ihm seine Stoffe zu, lotsen ihn an den Nordpol oder in Boliviens Salzwüste. Stundenlang ist er – eine schwarze Silhouette – 2013 mit dem Bunsenbrenner dem arktischen Eis zu Leibe gerückt. Vor den Aufnahmen seiner Aktion in der Arktis sieht man sich erinnert an Caspar Wolf, der sich selbst oft als Winzling mit Malzeug an den Rand seiner Alpenansicht pinselte. Vor 250 Jahren hat der Künstler protokolliert, was ihm die Landschaft an Erhabenheit bot. Heute ist die Welt ein Atelier geworden und der Künstler zum Akteur, der ihrem Zustand zwischen Traum und Trauma immer neue Materialien abgewinnt.