Gilbert & George: Jesus Fucking Christ!

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2. April 2020
Text: Dietrich Roeschmann

Gilbert & George: The Great Exhibition, 1971-2016.
Kunsthalle Zürich und LUMA Westbau, Limmatstr. 270, Zürich.
Dienstag bis Freitag 11.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 11.00 bis 20.00 Uhr, Samstag bis Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 10. Mai 2020.

www.kunsthallezurich.ch

Die riesigen Fenster im Erdgeschoss des Zürcher Löwenbräuareals sind verklebt mit einer langen Liste von Phrasen, die dem britischen Künstlerpaar Gilbert & George – und vermutlich einer ganz Heerschar von Assistenten – beim  Brainstorming über die vielseitigen Bedeutungen des Wortes  „Fuck” in den Sinn kamen:  „Fucking Hippies”,  „You Can Fuck On It”,  „Intellectual Fucking”,  „The Fucking Fuckers”,  „Holy Fuck” …  „Fuckosophy” ist ein Stakkato-Poem in rund tausend Zeilen, das man hier im Rhythmus des Treppensteigens lesen kann, auf dem Weg nach oben, zweiter Stock, wo sich die beiden Herren in klassischen Tweedanzügen gerade vor dem deckenhohen, glasfensterartig gerahmten Motiv eines aus vier erigierten Penissen zusammengesetzten Kreuzes in Pose werfen.  „Verbietet Religion”, deklamieren Gilbert & George dort unisono während der Pressekonferenz auf die Frage nach ihrer Idee für eine bessere Welt. Die beiden, die sich 1967 während ihres Studiums an der Londoner St. Martins School of Art kennenlernten und kurz darauf beschlossen, fortan alles gemeinsam zu tun und dies bis ins kleinste Detail als Lebenskunstwerk zu inszenieren, sind inzwischen 76 und 78 Jahre alt und gerade mit einer großen Retrospektive auf Europa-Tournee. Es ist die zweite Mega-Tour dieser Art. Die erste schenkte sich das Paar 2007 zum 40. Geburtstag ihres gemeinsamen Lebensprojekts und war unter anderem in der Tate Modern in London und im Münchner Haus der Kunst zu sehen.

Wer heute den Katalog von damals durchblättert, dürfte verwundert feststellen, dass sich seither nur wenig getan hat in der Kunst der Briten. Zumindest auf den ersten Blick. Auch wenn zahlreiche großformatige Arbeiten hinzugekommen sind, die – typisch für die beiden – Themen wie Sex, Gewalt, Religion und Fundamentalismus in drastische, oft kaleidoskopartig zersplitterte Bildwelten übersetzen oder in serielle Abfolgen von Slogans im Sound der britischen Boulevardpresse: Die visuelle Sprache ihrer Bilder ist nach wie vor so laut, grell, queer und rebellisch wie in den frühen 1980er Jahren, nachdem Gilbert & George aufgehört hatten, jene metallisch geschminkten „Living Sculptures” zu geben, als die sie Ende der 1960er Jahre den Begriff der Skulptur radikal erweitert hatten. Mit stundenlangen Gesangsperformances, bei denen sie den populären Song „Underneath The Arches” wie außer Kontrolle geratene Roboter schier endlos repetierten, waren die beiden bekannt geworden. Ihr endgültiger Durchbruch als „Künstler für alle”, die sie immer sein wollten, war dann eng verbunden mit dem internationalen Erfolg der vom Punk beeinflussten Mode-, Design- und Kunstszene Londons. Das Pathos ihrer meist in kräftigen Primärfarben kolorierten Foto-Collagen aus Selbstporträts mit aufgerissenen Augen und Mündern, glühenden Kreuzen, Union Jacks, Jesus-Figuren, Genitalien, Blut, Kot und reißerischen Claims setzte schon damals auf Überwältigung und auf Provokation.

Diese beherrschen Gilbert & George auch heute noch in bemerkenswerter Perfektion. Sie nennen sich konservativ, wählen die Torys und lieben die Monarchie. Sie sind überzeugte Brexiteers, hassen Nationalismus, Rassismus und Homophobie. Sieht man den beiden heute bei der Non-Stop-Inszenierung ihrer Rolle als eingespieltes Gentlemen-Duo mit Hang zur Ironie und zu streng antisozialistischen, libertären Positionen zu, wird man den Eindruck nicht los, dass es genau diese Widersprüche zwischen emanzipatorischem Furor, einer hyperindividualistischen Idee von Humanität und der freiwillig limitierten Perspektive auf die Welt aus der selbstgewählten Blase sind, die ihre Kunst auf so seltsam schillernde Weise beleben. In Zürich stehen Gilbert & George dafür derzeit nicht nur die Säle der Kunsthalle zur Verfügung, sondern auch die der benachbarten LUMA Foundation – insgesamt 1500 Quadratmeter. Der Platz reicht für knapp 70 Bilder. Dicht an dicht sortieren sie sich hier zu einer Werkschau in konstantem Erregungsmodus, in der zwischen den Farborgien der 1990er und 2000er Jahre und den Textgewittern der jüngsten Zeit immer wieder auch die ungewohnt leisen, poetischen Arbeiten aus den frühen 1970er Jahren auftauchen und die leicht ermüdende Redundanz der routinierten Provokation brechen.