Denise Bertschi: Die Aargauer Künstlerin folgt mit ihren Arbeiten den Spuren des Kolonialismus in der Schweiz

Porträt
3. März 2020
Text: Dietrich Roeschmann

Denise Bertschi.
Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz, Aarau.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 26. April 2020.

www.denisebertschi.ch

Jedes Land hat eine eigene Fiktion von seiner Bedeutung in der Welt. Die USA etwa finden, sie hätten alles Recht, „great again“ zu werden. Deutschland nennt sich gerne „Exportweltmeister“ und „Land der Dichter und Denker“, Frankreich feiert seine Grandeur, hält viel auf die eigene Küche und seinen esprit libre – und die Schweiz besteht seit Jahrhunderten auf ihrer Neutralität. Aber wie das mit Fiktionen nun mal so ist: Wirklich trauen kann man ihnen nicht. Und meistens erzählen sie nicht einmal die halbe Wahrheit.

Zum Beispiel die Sache mit der Neutralität. Denise Bertschi, 1983 in Aarau geboren, interessiert sich schon seit Langem für dieses Fundament der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Schweiz. Noch während ihres Kunststudiums an der HEAD in Genf und der ZHdK stattete sie den Schweizer Friedenssoldaten in der entmilitarisierten Zone zwischen Nord- und Südkorea einen Besuch ab. Seit Mitte der 1950er Jahre als neutrale Beobachter stationiert, versuchen sie dort mit ihren Familien ein möglichst normales schweizerisches Leben zu führen. Die Serie „State Fiction“ (2014), arrangiert aus eigenen Fotografien und aus in Militärarchiven gefundenen Privataufnahmen, erzählt auf anrührende Weise von der Absurdität der Rekonstruktion bünzlihafter Heimeligkeit in einer Region, in der die Luft förmlich vibriert angesichts der Spannung zwischen den sich gegenüber stehenden Machtblöcken. Dass Bertschi auch in späteren Serien ihren Fokus auf die Grenze richtete, verwundert kaum, garantiert diese doch den Schutz der Neutralität. „The World is behind borders“ – Titel eines ihrer Künstlerbücher – beschreibt diese Perspektive des unparteiischen Blicks in seiner ganzen Zwiespältigkeit. Eingeschlossen und herausgehoben zugleich, offen für vieles und nicht korrumpierbar auf der einen Seite, tatenlos der Eskalation von Konflikten zusehend auf der anderen Seite. Und nicht nur das. Um der komplexen Bedeutung des Konzepts der Neutralität für die Schweiz auf die Spur zu kommen, untersucht Denise Bertschi in ihren Arbeiten derzeit verstärkt deren kulturelle und wirtschaftliche Effekte. Mit einem Stipendium der Pro Helvetia recherchierte sie 2017 in Johannesburg, wie Schweizer Unternehmen unter Berufung auf die Neutralität ihres Landes gegen alle internationalen Sanktionen zwischen 1986 und 1991 lukrative Geschäfte mit dem Apartheidstaat Südafrika machten. In ihrer Arbeit „We Say We Are Fine, They Say We Are Not“ (2018) stellte sie neben gut gelaunte Anzeigen aus dem vergilbten Rundbrief eines Schweizer Sportclubs in Kapstadt die Aufnahmen der Zürcher Fotografin Gertrud Vogler, die seit 1965 die Anti-Apartheid-Proteste in der Schweiz dokumentierte. Im Videoporträt erzählt der schwarze Hausmeister des Sportclubs daneben von der anhaltenden Wirksamkeit des einst staatlichen, heute strukturellen Rassismus in Südafrika.

Auch die jüngsten Arbeiten von Denise Bertschi, die für die Verknüpfung ihrer Recherchen zu beziehungsreichen Plots aus Fotografien, Videoinstallationen, Collagen aus Archivmaterial, Textilarbeiten und Buchprojekten mit dem Manor Kunstpreis 2019 ausgezeichnet wurde, kreisen um die Lücken im kollektiven Gedächtnis der Schweiz. Im Aargauer Kunsthaus, wo derzeit ihre bislang größte Soloschau zu sehen ist, folgt die Künstlerin der Spur von Aargauer Handelsleuten nach Nordbrasilien in die 1818 von Deutschen und Schweizern gegründete Kolonie Leopoldina. Die Kaffeeplantage, die dort durch die Ausbeutung von über 2000 Sklaven entstand, war eine der größten des 19. Jahrhunderts. Bertschi legt diese nahezu überwucherten Geschichten eines alles andere als neutralen Engagements frei, indem sie die Menschen in Brasilien und die Dokumente in Aargauer Archiven erzählen lässt.