Tom Sachs, Timeline: Mimikry des Kapitalismus

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10. März 2020
Text: Anne Abelein

Tom Sachs, Timeline.
Schauwerk, Eschenbrünnlestr. 15, Sindelfingen.
Dienstag und Donnerstag 15.00 bis 16.30 Uhr (im Rahmen einer Führung, Samstag und Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 26. April 2020.

www.schauwerk-sindelfingen.de

Die unübersichtlich gewordene Wirklichkeit kann man heute nicht mehr fassen. Tom Sachs (*1966) tut es trotzdem – indem er sie einfach in Do-it-yourself-Manier nachahmt. Als er im Jahr 1974 als kleiner Junge für seinen Vater treuherzig eine Nikon-Kamera nachbaute, hat er die Technik der Bricolage mit vorgefundenen Gegenständen für sich entdeckt. Die Kamera ist Teil der großen Wandarbeit „Timeline“, die der ersten Retrospektive ihren Namen gab. Über dem Zeitstrahl befinden sich Album- und Buchcover, die den Künstler beeinflusst haben, und unterhalb hat er historische und popkulturelle Ereignisse notiert. Ein Studium an der Architectural Association School of Architecture in London und am Bennington College in Vermont und seine Tätigkeit in der Möbelwerkstatt bei Frank Gehry in Los Angeles bilden das Fundament der Basteleien.

Die Ausstellung im Schauwerk ist zweiteilig: In „Timeline“ erhält man einen Überblick über das Schaffen des Künstlers, und „Tea Ceremony“ besteht aus der gleichnamigen Installation. Eigens für die Räumlichkeiten schuf der New Yorker Tom Sachs mit seinem Studio-Team die fast elf Meter hohen Skulpturen der Zwillingstürme des World Trade Centers vor dem 11. September 2001. Bleistiftmarkierungen und Nägel lässt er mit Absicht sichtbar. Auch legt er Wert auf absolute Transparenz. Baut er wie im Fall von „LilTs Toilet Town“ ein WC nach, kann man an der Rückseite genau verfolgen, wie das Abwassersystem funktioniert. Im Badezimmerschränkchen finden sich sogar nachgebastelte Exkremente und Flaschen mit Blut und Urin.

Der Künstler bezieht sich allerorten auf die Markenkultur, wobei sein Verhältnis zu ihr ambivalent ist und er den Konsumfetischismus gründlich durch den Kakao zieht: 1994 sorgte er mit einer Hello-Kitty-Krippe für Aufsehen. Modelabels können bei ihm Giftgas-Sets (1998) oder Guillotinen schmücken (2000). Manche Unternehmen möchte er nicht einmal parodistisch behandeln: Das Amazon-Logo auf einem Karton in einer Miniversion seines chaotischen Studios überklebt er in der Schau spontan. Viel Energie steckte Tom Sachs Anfang 2000 auch in den Nachbau von McDonalds-Mobiliar („Nutsys“). Mit „McBusier“ stellte er einer Miniatur von Le Corbusiers Villa Savoye einen Mini-Drive-in gegenüber und zeigt so die Pervertierung der modernen Architektur. Die Arbeit symbolisiere die „Zerstörung des Individuums“, den „kulturellen Verlust“ und den „Aufstieg des Kapitalismus“, so der Künstler.

Die riesige Rauminstallation „Tea Ceremony“ von 2017 ist erstmals in Deutschland zu sehen. Möchte man sie betreten, muss man ähnlich wie in einer Tempelanlage den äußeren Garten passieren. Dort plätschert meditativ ein Teich mit echten Kois vor sich hin. Hat man sich seines Schuhwerks entledigt und gereinigt, kann man an einem japanischen Bäumchen vorbei (aus Zahnbürsten und Wattestäbchen bestehend) das Teehaus im inneren Bezirk betreten. Alles ist funktionstüchtig. Was bedeutet für Tom Sachs die Teezeremonie? Erstens ist sie für ihn Ausdruck von Spiritualität und den großen Seinsfragen: „Warum gibt es uns, woher kommen wir, und wohin gehen wir?“ fragt der Künstler. Dann repräsentieren sie für ihn die Sinneswahrnehmungen. Drittens sei da noch die „Hardware“ – die hilflosen Versuche, mit technischen Apparaturen der Unermesslichkeit des Universums beizukommen.

Ob es sich dabei um Rituale oder Raumfahrt (ein Anzug ist auch im Schauwerk zu sehen) handelt, ist für Sachs ein- und dasselbe. „Tea Ceremony“ entwickelte sich aus seiner Inszenierung „Space Program: Mars“ 2012, wo seine Astronauten die Zeremonie auf dem Mars einführten. Betrachtet man die Teeutensilien im Schauwerk in der Sektion „History“ aus der Nähe, erkennt man Spielzeugbestandteile. Ob es sich um Kartenspiele oder weniger harmlos um Kokainzubehör handelt – Sachs sieht in ihren Funktionen für den Menschen Parallelen.