Nina Canell: Reflexologies.
Kunstmuseum St. Gallen, Museumstr. 32, St. Gallen.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr, Mittwoch 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 25. November 2018.
Daten fließen inzwischen überall und jederzeit. Sie fließen unbemerkt und unablässig. Erst, wenn der Datenstrom zufällig oder per technischer Komplikation unterbrochen ist, wenn die Zuganzeige ausfällt, das Mobilfunknetz überlastet oder nicht mehr vorhanden ist, sich die Fotos im Internet nicht hochladen lassen, dringt ins Bewusstsein, dass es sonst eigentlich funktioniert. Warum es das aber tut, wie die Technik im Hintergrund wirkt und aussieht, bleibt dennoch verborgen. Dabei lohnte sich ein Augenschein. Den ermöglicht jetzt Nina Canell im Kunstmuseum St. Gallen. Die 1979 in Schweden geborene und in Berlin lebende Künstlerin erforscht das formale Potential technischer Materialien und deckt ungeahnte Verwandtschaften auf. Sie verwendet die originalen Materialien, allerdings erst dann, wenn sie ihren Dienst getan haben und nur noch als Recyclingmaterial zur Verfügung stehen. Ästhetisch ansprechend sind sie dennoch, zumindest im Falle des Überseekabels. Es ist als „Brief Syllable (Skewed)” im Obergeschoss des Kunstmuseums auf den Steinfliesen des Foyers überaus prominent platziert. Inmitten der prachtvollen, neoklassizistischen Raumgestaltung und
-ausstattung ruht es mit größter Selbstverständlichkeit und gibt sein Innenleben preis. Leuchtend gelber Kunststoff umhüllt ein ausgeklügeltes System aus Metallstreben, schwarzen Gummi, Textil und in Blau und Rot gefassten kleinen kupfernen Drähten. Kein Kubikzentimeter ist verschenkt, nichts ist überflüssig oder an der falschen Stelle. Canell ist so begeistert von dieser perfekten, aus der Funktion geborenen Form, dass sie dieser eine ganze Serie widmet: Die Blätter „Mid Sentence” basieren auf technischen Zeichnungen von grafischen Labeldiagrammen und zeigen einmal mehr die perfekte Anlage der Kabelkonstruktionen im Querschnitt. Sie werden im Kunstmuseum im letzten Saal des Rundganges präsentiert und so rahmen letztlich das Originalkabel im Foyer und die den Originalzeichnungen entlehnten Bilder die gesamte Ausstellung. In dieser geht es dann durchaus auch anders zu als nur wohlgeordnet.
Nina Canell lässt Materialien mit augenscheinlichem Vergnügen zerfließen, verschmelzen, zusammensacken. Sind beispielsweise die Kabel im Laufe des Recyclingprozesses erst einmal ihres metallenen Kerns entledigt, ist auch rasch die Form dahin. Die Überreste von Kunststoffummantelungen lassen sich zu unansehnlichen Haufen türmen, lassen sich verkneten, verbiegen und zu gnomenhaften Wesen verschlingen. Nina Canell präsentiert diese Varianten unter den Titel „Shedding Sheats“ konsequenterweise wie zuvor das Unterseekabel auf dem Boden der Ausstellungssäle. Aber anders als das singulär und ausgewogen platzierte „Brief Syllable (Skewed)” wirken sie wie achtlos hingeworfen: ausgediente Materialreste eben, selbst im Kunstkontext beliebig geworden.
Kontraste inszeniert Canell aber nicht nur zwischen unterschiedlichen Werken, sondern auch innerhalb ein und derselben Arbeit. Die Ausstellung zeigt mehrere eindrückliche Beispiele dafür. So besteht die vierteilige Wandarbeit „Gum Shelves” aus Mastix, dem Baumharz der Wilden Pistazie. Es wurde auf rechteckige Stahlträger in ebenfalls rechteckigen Blöcken gelegt und fließt seither der Schwerkraft ergeben dem Boden entgegen. Formlos, hautfarben, unbeschreiblich zäh und in wirkungsvollem Gegensatz zur exakten Gestalt der Stahlträger. Lässt sich ein solcher Kontrast noch steigern? Er lässt sich, und wie: Wenn eine Tigernacktschnecke in ein elektrisches Schalterwerk gesetzt wird, dort langsam, schleimig über Tasten und Relais kriecht, dann sind alle Kategorien von Schönheit und Technik, von Funktion und Überfluss auf den Kopf gestellt. Canells Videoarbeit „Energy Budget” lässt es jedoch nicht dabei bewenden, sondern zoomt auch noch in Hong Kong über die Wolkenkratzer mit Drachenflugschneisen – eine geistreich gesetzte Parallele zur Schnecke im Schaltwerk: Dort, wo die Technik dominiert, ist auch ihr Ende nicht weit.