Speak, Lokal: Neue Heimat

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29. März 2017
Text: Julia Hochstenbach

Speak, Lokal.
Kunsthalle ZürichLimmatstr. 270, Zürich.
Dienstag bis Freitag 11.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 11.00 bis 20.00 Uhr, Samstag und Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr. Bis 7. Mai 2017.

Eine Wunderkammer tut sich auf in den Räumen der Kunsthalle Zürich, bevölkert von Fotos, Bildschirmen, Texten, Schallplatten und raumgreifenden Installationen, durchzogen von sinnbestürmenden Gerüchen, durchschallt von Knistern, Knacken und heulenden Gesängen. Die Ausstellung „Speak, Lokal“ stellt das Lokale, den Ort, die Heimat, die örtliche Zugehörigkeit zur Debatte – mit einem so wunderbaren wie widerständigen Sammelsurium an Werkformen und Herangehensweisen. Der polnische Künstler Piotr Uklanski etwa porträtiert sein Heimatland mit bewusst banalen Fotos, die Gedenkskulpturen oder das KZ Auschwitz in ein touristisch-hübsches Licht rücken und so die Perfidie und Bequemlichkeit der Beschönigung offenbaren. Das iranische Künstlertrio Rokni Haerizadeh, Ramin Haerizadeh und Hesam Rahmanian zerschneidet, übermalt und kombiniert ein Youtube-Video über syrische Flüchtlinge zu einem Stopp-Motion-Film. Auf ihrem Weg vom Schlauchboot bis zur Verladung in Züge machen die Flüchtlinge bizarre Wandlungen durch, erhalten Tier- oder Rauchwolkenköpfe, verdoppeln sich oder schreiten kopf- und beinlos voran. Scharf an der Grenze zur Entwürdigung überschreiben die Künstler, die aus Gründen der eigenen Sicherheit selbst in Exil gingen, die populären Denkmuster frech mit Groteskem, Tierhaftem und luftiger Phantastik und ziehen so unter dem Flüchtling den Menschen hervor: roh, vital, geistig und zutiefst ambivalent. Eine Art New Yorker Straßentagebuch schreibt der Japaner Yuji Agematsu mit aufgelesenen Fundstückchen. Aus Kaugummis, Vogelfüßchen, Moos, Haaren baut er winzige Landschaften, filigrane Skulpturen – eine komprimierte städtische Obsession, bezaubernd, ekelerregend, abstrus und delikat.

Der Dokumentarfotograf Samsul Alam Helal aus Bangladesch rückt Minderheitengruppen in den Fokus. Paare verschiedener Religionen zum Beispiel, die sich mit ihrer Heirat massiven Bedrohungen aussetzen, von Enterbung und Verstoßung bis hin zum Ehrenmord. Sie verbergen sich unter Haaren und hinter Blumen oder posieren offen vor der Kamera, Verletzlichkeit, Trotz und Mut im Gesicht. Von berückender Schönheit sind die farbprächtigen, ins Malerische übergehenden Bilder, doch eigentlich treibt diese Schönheit aus der ausdrucksvollen Lebendigkeit der Porträtierten hervor: überall fängt Helal den ganzen Menschen ein, fragil, angstvoll und voller Liebe.

Immer wieder offenbart sich hier im Abseitigen das Wahre, im Hässlichen das Schöne, im Schönen das Grausame. Und immer wieder öffnet sich ein anderer Blick, ein neues Denken, eine neue Welt. Auch die Künstler selbst sind sprunghaft, wie die taiwanesische Amerikanerin Maggie Lee, die ihrer Mutter ein sehr persönliches, sehr eigenwilliges filmisches Denkmal setzt und um den Bildschirm einen Schau-Raum einrichtet, in dem sich Kinderzimmer und postmoderne Installation kreuzen.

Ein weites Denkfeld tut sich in der Vielzahl der Ansätze auf; und es wird deutlich, wie sehr ein Ort, eine Heimat, eine Zugehörigkeit, eine Selbstverortung subjektive, biographisch angetriebene Konstruktionen sind, fließend in ihren Grenzen, wandelbar, wandernd und individuell „sprechend“ wie der Mensch selbst. In der temperamentvollen, bunten Werkkombination der Schau spiegeln sich der anarchische Wildwuchs der Sichtweisen ebenso wie die Vitalität und Kreativität jeglichen Wurzelschlagens oder -lösens, jeglicher Ortsbeschreibung,  Selbstpositionierung und Identitätsfindung und schließlich die Perspektivität alles Menschlichen. Und sie rückt die Kunst selbst ins Blickfeld, die auch im Geruch, im Text, im Müll, in der Recherche und der Dokumentation existiert. Wie das „Lokale“, so erzählt die Schau, ist auch Kunst nichts fest Definiertes, sondern ein Geschehen, das der Zuschreibung unterworfen ist.