Sadie Benning, Shared Eye: Radical Painting mit Laubsäge und Smartphone

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23. März 2017
Text: Dietrich Roeschmann

Sadie Benning: Shared Eye.
Kunsthalle Basel, Steinenberg 7, Basel.
Dienstag bis Freitag 11.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag bis 20.00 Uhr, Samstag und Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 30. April 2017.
www.kunsthallebasel.ch

Eine der schönsten Coming of age-Szenen des jüngeren Kinos stammt aus Andrea Arnolds „American Honey”, einem Road Movie über eine jugendliche Drückerkolonne beim Verkauf von Zeitschriften-Abos und Partymachen im Mittleren Westen. Während draußen Weizenfelder, Shopping Malls und Vororte namenloser Städte vorbeifliegen und der Fahrtwind durchs offene Fenster des Minibusses knattert, pumpt aus den Boxen E-40s Sommerhit „Choices”. Die Jugendlichen – Borderliner, eine junge Lesbe, ein Skater, ein paar Checker – nicken zum Beat und antworten auf die Raps: „You a Loser?”, „Nope!”, „You a Winner?”, „Yup!”, „Softer than a sock?”, „Nope!”, „Solid as a rock?”, „Yup!” Ja, nein, ja, nein: So geht das drei Minuten, und während die Kamera über die Gesichter der Teenager streift, verdichtet sich der Chor zur trotzigen Behauptung ihres jeweiligen Andersseins. Die Botschaft: Wir alle haben die Möglichkeit, uns zu entscheiden – also tun wir es, damit es nicht andere für uns tun.

Es ist kein Fehler, sich dieses in Cannes ausgezeichnete Identitätsdrama in Erinnerung zu rufen, wenn man die Ausstellung von Sadie Benning in der Kunsthalle Basel betritt. Tatsächlich geht es auch hier um die Suche nach einer eigenen Perspektive auf die Welt und um den Wunsch, die gesellschaftlichen Konstruktionen des Ichs hinter sich zu lassen – allerdings mit einem Erfahrungsvorsprung von knapp  zwei Jahrzehnten. 1973 in Milwaukee geboren, wuchs Benning als Mädchen im Mittleren Westen auf. Mit 16 begann sie erste Videos zu drehen, die um Fragen der Identität kreisten und um die Schwierigkeiten, als homosexueller Teenager in der amerikanischen Provinz der Neunziger zu überleben. Diese Clips – aufgenommen mit einer Billigkamera, die Benning von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte – gaben ungewohnt intime Einblicke in die Selbsterkundungen einer Heranwachsenden und öffneten ihr als jüngste Teilnehmerin aller Zeiten mit 19 die Tür zur New Yorker Whitney Biennale. Als sie Ende der Neunziger dann neben ihrer künstlerischen Tätigkeit zusammen mit Kathleen Hanna, der Pionierin der Riot-Grrrl-Bewegung, die feministische Queer-Electropunk-Band „Le Tigre” gründete, hatte sie für sich selbst die Frage der geschlechtlichen Zugehörigkeit längst entschieden: Nicht Frau, nicht Mann, sondern dazwischen: trans.

Mittlerweile macht Benning keine Musik mehr und statt der Arbeit an Filmen stehen hybride Bildobjekte zwischen Skulptur, Malerei und Fotografie im Fokus. In der Kunsthalle Basel zeigt Benning eine Auswahl, darunter die 40-teilige Serie „Shared Eye”. Der Titel ist Programm, denn tatsächlich zwingen diese Bildobjekte zur geteilten Aufmerksamkeit zwischen den Elementen, aus denen sie bestehen: Urbane Smartphone-Schnappschüsse, gefundene Fotos aus dem Familienalbum oder dem Internet und Mini-Spielzeugfiguren, die Benning auf kleinen Sockeln im Bild platziert. Der Bastel-Look dieser analogen Displays mit ihren in Laubsägetechnik freigestellten Pop-Up-Fenstern wirkt im ersten Moment wie eine Do-It-Yourself-Parodie auf digitale Benutzeroberflächen. Dass Benning sie ausdrücklich als Gemälde versteht, auch wenn weder Pinsel noch Farbe zum Einsatz kamen, wird nachvollziehbar, wenn man weiß, dass die Bildtafeln ­ Blinky Palermos legendäre Malereiinstallation „To the People of New York City” von 1976 in Rhythmus und Format nachstellen. Die formale Strenge dieser Hommage an ein Hauptwerk des Radical Paintings steht dabei in seltsam berührendem Kontrast zum nervösen Chaos der Bilder, das Bennings Serie Display für Display entfaltet und dabei gezielt im Unklaren lässt, ob es sich hier nun um eine Anhäufung jenes banalen Bildermülls handelt, der unsere Datenkanäle verstopft und die visuelle Welt zugleich immer leerer macht, oder um einen hochverdichteten assoziativen Plot aus persönlichen Erinnerungen, popkulturellen Referenzen und Augenwinkelblicken auf das Vertraute. Es ist diese wunderbar brüchige, einer traumgleichen Logik folgende Vermischung der Perspektiven, die Bennings Arbeiten wie Videostills eines inneren Films über die Möglichkeiten der Selbstermächtigung in einer durch stereotype Wahrnehmungsmuster und Identitätsmodelle geprägten Welt wirken lässt.