Cinéma, mon amour: Resonanzraum Kino

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9. Februar 2017
Text: Dietrich Roeschmann

Cinéma, mon amour.
Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz, Aarau.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 17. April 2017.

„Kino – dafür werden Filme gemacht!” Der griffige Slogan, mit dem die deutsche Filmwirtschaft seit 2010 für sich wirbt, hat in letzter Zeit ein wenig Patina angesetzt. Denn seit Netflix und Amazon den Kinomarkt nicht nur als Distributeure, sondern auch als Produzenten aufmischen, ist keineswegs mehr sicher, ob Filme wirklich immer noch genau dafür gemacht werden: für diesen dunklen, überheizten, schalldicht gepolsterten und nach Popcorn riechenden Ort mit seinem launischen Publikum, das als potenzieller Störfaktor immer mit im Raum sitzt. Die stagnierenden Umsätze der Branche sprechen eher dagegen. Doch auch das liegt auf der Hand: mit authentischen Kino-Erlebnissen kann Video-on-demand nicht punkten. Film ist hier lediglich Datenmaterial, sein Ort die Cloud, seine Verfügbarkeit unbegrenzt. Parallel zur Digitalisierung aller Prozesse im Film rückt in der kulturellen Debatte derzeit die Frage nach dem Wesen des Mediums wieder stärker in den Fokus.

Nicht zufällig begeistert sich auch die Kunst momentan vermehrt für das klassische Kino – sei es als Traumfabrik, sei es als kollektiver Rezeptionsraum oder „Paradise Institute”, wie Janet Cardiff und George Bures Miller ihre illusionistische Kinobox nennen, die sie derzeit im Aargauer Kunsthaus im Rahmen der Ausstellung „Cinéma, mon amour” aufgebaut haben. Kunsthaus-Direktorin und Kuratorin Madeleine Schuppli hat zu der Gruppenschau rund zwei Dutzend Kunstschaffende eingeladen, die sich seit langem mit dem Kino, seiner Bildsprache und seinen Mythen auseinandersetzen und in ihren Arbeiten auf vielfältige Weise deutlich machen: Nicht vor dem Fernseher, am Tablet oder Laptop, sondern erst im mit anderen geteilten Dunkel des Kinos wird Film tatsächlich in seiner Raumzeitlichkeit und in seiner produktiven Entkopplung von der Alltagswelt erfahrbar.

Am eindringlichsten zu erleben ist das in Aarau in Stan Douglas’ Installation „Secret Agent”, für die der kanadische Künstler Joseph Conrads gleichnamigen, 1907 erschienenen Roman über einen anarchistischen Bombenleger aus dem London der Jahrhundertwende in ein Lissabonner Kino zur Zeit der Nelkenrevolution 1976 verlegt. In einer komplex verschachtelten Bilddramaturgie faltet Douglas diesen in satten Noir-Stereotypen erzählten Thriller-Plot von der Fläche der Kinoleinwand in die Dreidimensionalität einer Sechs-Kanal-Projektion, durch die man sich bewegt, als gäbe es keine Grenze zwischen der Fiktion des Kinofoyers und der Realität des Ausstellungsraumes. Dass es schwerfällt, sich der knapp einstündigen Aufführung vorzeitig zu entziehen, spricht für Douglas’ Arbeit, verweist aber auch auf ein grundsätzliches Dilemma dieser sehenswerten Schau: Unter drei Stunden ist „Cinéma, mon mour” kaum sinnvoll zu bewältigen. Wer sich darauf jedoch einlässt, wird mit einer denkbar kurzweiligen Geschichte der Inspiration der Kunst durch das Kino belohnt – von Klassikern wie Mark Wallingers Bibel-Abspann-Streifen „The End” (2006), der sämtliche Mitwirkende des Alten und Neuen Testaments listet, oder Candice Breitz’ „Soliloquy Trilogie” (2000), für den die südafrikanische Künstlerin Filme wie „Basic Instinct” oder „Die Hexen von Eastwick” auf die Performances ihrer Stars – in diesem Fall Sharon Stone und Jack Nicholson – zusammenschnitt und so auf atemberaubende Weise Schauspielerporträts und Rollenklischees Hollywoods miteinander konfrontiert. Bis hin zu Julian Rosefeldts bizarrer Video-Burleske „Deep Gold” (2014), die als ein von vielbusigen Hermaphroditen und muppetshow-artig animierten Penispuppen bevölkertes Sequal von Luis Buñuels Film „L’Age d’Or” daherkommt, und der packenden Spurensuche „Movie Mountain” (2011) des Schweizer Künstlerduos Teresa Hubbard und Alexander Birchler. Deren Videoinstallation kreist um die Geschichte eines kargen Hügels in der texanischen Wüste, rund zehn Meilen nördlich der Grenzmauer zu Mexiko, der dem Stummfilm-Regisseur Gaston Méliès 1909 als Kulisse für einen der ersten Western der Filmgeschichte gedient haben soll. Hubbard & Birchlers Doppelprojektion, angelegt als Road Movie durch eine von amerikanischen Mythen überschriebene Einöde, erzählt von den Nachfahren der einstigen Westernhelden und von filmbegeisterten Nachbarn aus der Umgebung, die heute als Cowboys arbeiten. Auch hier ist es der Raum, ist es die auf dem Split-Screen in den Ausstellungssaal gedehnte Landschaft, die den Unterschied macht. Wo das Kino als Ort in der Auswertungskette der Filmindustrie ökonomisch zunehmend uninteressant wird, sind es Arbeiten wie diese, die zeigen, dass es seine filmspezifische Relevanz keineswegs verloren hat. Im Gegenteil. So gesehen ist „Cinéma, mon amour” ein wunderbare Hommage an einen hochaktuellen Anachronismus.