Brasil! Brasil! Aufbruch in die Moderne.
Zentrum Paul Klee, Fruchtland 3, Bern.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 5. Januar 2024.
www.zpk.org
Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog erschienen: Snoeck, Köln 2024, 296 S., 48 Euro | ca. 67.90 Euro.
Als kürzlich das Oberste Gericht in Brasilien Elon Musks Plattform X sperrte, begründete Bundesrichter Alexandre de Moraesdas das mit der Verbreitung von Falschinformationen in Zusammenhang mit der Erstürmung des Gerichts und des Präsidentenpalastes durch Anhänger Jair Bolsenaros nach dessen verlorener Wahl im Januar 2023. Seit den frühen 1960er Jahren stehen die von Oscar Niemeyer entworfenen Gebäude für eine Architektur der Demokratie und der Transparenz. Nicht wenige sahen in den Verwüstungen durch den rechten Mob deshalb auch einen Angriff auf die Errungenschaften der brasilianischen Moderne. Deren Anfängen widmet das Zentrum Paul Klee in Bern derzeit die spektakuläre Ausstellung „Brasil! Brasil! Aufbruch in die Moderne“ mit über 130 Werken von zehn wegweisenden Künstlerinnen und Künstlern der 1910er bis 1950er Jahre. Viele der Arbeiten sind erstmals außerhalb Südamerikas zu sehen. Endlich: Sie kommen gerade zur richtigen Zeit nach Europa. Tatsächlich berührt die von Fabienne Eggelhöfer und Roberta Saraiva Coutinho kuratierte Schau auch heute hoch aktuelle Fragen. Wie die der kulturellen Identität zwischen Abschottung und Durchlässigkeit, Aneignung und Vermischung.
Damit hatte auch Anita Malfatti (1889-1964) zu kämpfen, die von 1910 bis 1914 in Deutschland und den USA Kunst studierte und in der Ausstellung mit mehreren expressionistisch beeinflussten Porträts vertreten ist. Die Kritik reagierte damals empört auf ihre Malerei und warf ihr vor, die Entwicklung der Kunst Brasiliens durch Bilder im Stil von „Zeichnungen der Insassen von Irrenhäusern“ zu gefährden. Malfatti gehörte zur Grupo dos Cinco, der Gruppe der Fünf, die sich 1922 zusammengefunden hatte, um gemeinsam am Konzept einer brasilianischen Moderne zu arbeiten und ihre Ideen dazu im gleichen Jahr an der „Semana de Arte Moderna“ in São Paulo vorstellte. Mit dabei war auch der Dichter Oswald de Andrade (1890-1954), dessen „Kannibalistisches Manifest“ (Manifesto Antropófago) weit über die Avantgarde hinaus in die Literatur, Musik und Architektur wirkte, wie die Ausstellung in ausführlichen Exkursen zeigt. Die Kunst Brasiliens, schrieb er, dürfe Einflüsse des Westens nicht nur übernehmen, sondern müsse sie sich einverleiben und „verdauen“, um daraus eine mit dem Eigenen und dem Anderen gesättigte, „neue indigene brasilianische Kultur“ zu kreieren. Das brach radikal mit dem europäisch geprägten Akademismus der Kunst im Brasilien des 19. Jahrhunderts. Tarsila do Amaral (1886-1973), die mit Oswald de Andrade verheiratet war und aus einer wohlhabenden Kaffeepflanzerfamilie stammte, imaginierte diese neue Kultur überaus erfolgreich als farbintensive, von Palmen und Blumen gerahmte Idylle, oft bevölkert von Schwarzen Menschen, deren malerisch inszeniertes Glück jedoch nichts über ihre tatsächliche Armut und gesellschaftliche Stellung als ehemaligen Sklaven verriet. Lasar Segall (1891-1957), 1923 von Litauen nach Brasilien ausgewandert, war da kritischer. In Bildern wie „Bananenplantage“, einem eindringlichen, von üppigem Grün verschatteten Porträt eines Afrobrasilianers, nahm er die Entwurzelung und Ausbeutung der afrikanischen Sklaven als Teil der kulturellen DNA des Landes in den Blick. Seine Gemälde sind in Bern neben Arbeiten von Rubem Valentim (1922-1991) und Djanira da Motta e Silva (1914-1979) zu sehen, die zur zweiten Generation der Modernen in Brasilien gehörten. Beide beziehen sich in ihrer Kunst auf Symbole und Riten des afrobrasilianischen Candomblé-Kults – mit totemartigen Holzskulpturen und abstrakten Zeichenordnungen bei Valentim, mit scherenschittartigen Bildern von Tänzern oder weiblichen Gottheiten bei Motta e Silva, deren Gemälde aktuell auch an der 60. Venedig-Biennale zu sehen sind. Einem zutiefst religions- und autoritätskritischen Programm dagegen folgt das Werk des Malers, Ingenieurs, Dramatikers und Performers Flavio de Cavalho (1899-1973). Die bizarren Kompositionen des Außenseiters tragen Titel wie „Die Unterlegenheit Gottes“ und atmen einen melancholischen Humor, der auch auf die Widersprüche zwischen Tradition und Fortschritt, Identität und Herrschaftverweist, die trotz aller Besonderheiten auch in Brasilien die Entwicklung der Moderne begleiteten.