Welten in Bewegung. Unvoreingenommen vergleichendes Sehen

Blick in die Ausstellung "Ryoji Ikeda. data-verse" , 2019, © Ryoji Ikeda Studio, Foto: Marius Maasewerd
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31. Juli 2024
Text: Bettina Maria Brosowsky

Welten in Bewegung. 30 Jahre Kunstmuseum Wolfsburg.

Kunstmuseum Wolfsburg, Hollerplatz 1, Wolfsburg.
Dienstag bis Sonntag 11.0 bis 18.00 Uhr.
Bis 4. August 2024.

www.kunstmuseum.de

Cindy Sherman, Untitled Film Still #2, 1977, Silbergelatineabzug, 95,5 x 70 cm, Ed. 1/3, © VG Bild- Kunst, Bonn, 2024
Lucas Cranach d. Ä., Venus, um 1530, Öl auf Holz, 41 × 26,5 cm, Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig, © Herzog Anton Ulrich-Museum, Foto: Claus Cordes; Benedikte Bjerre, Lisa’s Chicken (Farm Life / German Version) (Ausschnitt), 2016/2021, Folie, Helium, 50 Objekte, je 40 × 30 × 15 cm, Kunstmuseum Wolfsburg, erworben mit Unterstützung der New Carlsberg Foundation, © Benedikte Bjerre, Foto: Marek Kruszewski
Andreas Gursky, Dubai World III, 2008, Color Print, 237 x 342,5 x 6,2 cm (mit Rahmen), Ed. 3/6, Dauerleihgabe der Volkswagen AG, © VG Bild-Kunst, Bonn, 2024

Zu seinen Jubiläen, so 2012 anlässlich seiner „Volljährigkeit“, dem 18-jährigen Bestehen, oder 2019, zum 25., holt das Kunstmuseum Wolfsburg gerne Teile seiner Sammlung aus dem Depot. Diese ist seit 1993, dem Beginn des systematischen Erwerbs rund ein Jahre vor Eröffnung des Hauses, auf über 1000 Werke von 144 internationalen Künstler:innen an- und in das Haus hineingewachsen, wie man in Wolfsburg voller Stolz betont. Rund 160 Arbeiten sind derzeit in einer Jubiläumsschau zu sehen, die auf 30 Jahre Kunstmuseum Wolfsburg zurückblicken möchte. In Zahlen heißt das: über 150 Einzel- und Themenpräsentationen, wie zuletzt die als „Ausstellung des Jahres 2023“ prämierte Schau „Re-Inventing Piet. Mondrian und die Folgen“, sowie 100 begleitende Publikationen.

„Welten in Bewegung“, so der Titel der aktuellen Sammlungsschau, will eine vielfältige Reise durch unterschiedliche Lebensbereiche bieten und aufzeigen, wie sich Ereignisse individueller bis globaler Dimension in künstlerischen Interpretationen widerspiegeln. 15 Leihgaben – alte Malerei, Grafik und Kunsthandwerk – aus dem Braunschweiger Herzog Anton Ulrich-Museum bilden historische Dialogpartner in 15 thematischen Kapiteln, in die sich die Schau gliedert. Das klingt so unverbindlich wie allgemeingültig, gelingt visuell aber ganz unterhaltsam. Gleich am Beginn geht es etwa um „Raumwunder“. Die motivisch wie räumlich ausufernde Installation von Michel Majerus „The space is, where you‘ll find it“ will durchschritten werden, um im Angesicht einer niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts zu erahnen, welch auch spirituelle Offenbarung für damalige Zeitgenoss:innen das dramatisierte Tageslicht im Inneren eines großen Kirchenraums bedeutet haben mag.

Heute sind Museen die neuen Kathedralen, die, wie das Wolfsburger Kunstmuseum mit seiner 16 Meter hohen zentralen Halle, über architektonische Mittel zu beeindrucken trachten. Erwin Wurm erdet derartige Gedankenflüge kurzerhand mit einer „one minute sculpture“ absurder Raum- und Möbelkonstellation. Denn spätestens bei der menschlichen Interaktion mit ihr wird nur mehr die Banalität unser aller Tun und Sein deutlich, das stets zum Scheitern verurteilt ist. „Wer bist Du?“ fragt im Anschluss Christian Keinstar und lässt die Nachbildung seines Kopfes aus Gallium, ein Metall, das schon bei knapp 30 Grad zerschmilzt, durch die Maschen eines Gitters zerfließen. Diese Arbeit zählt zu den neueren Erwerbungen. Sie wurde 2021 durch Mittel eines Freundeskreises wohl nicht ganz unbetuchter Geldgeber:innen gekauft und war Highlight einer Ausstellung zum künstlerischen Sujet des Menschenbildnisses. Denn auch das gehört zur Geschichte der Wolfsburger Institution: Konnte das Haus dank seiner monetären Nähe zu einem Weltkonzern über lange Jahre eine stattliche und profilierte Sammlung zeitgenössischer Kunst seit 1968 zusammentragen, die prominente Künstler wie Mario Merz, Anselm Kiefer oder Carl Andre in mehrteiligen Konvoluten umfasst, so sind die Ankaufspreise im internationalen Kunstmarkt mittlerweile selbst für den Wolfsburger Hausetat unerschwinglich geworden.

Trotzdem hielten in den letzten fünf Jahren rund 400 neue Werke Einzug in die Sammlung, manches als Schenkung durch Künstler:innen, Galerien und Sammler:innen. Das Haus könne sich mittlerweile aussuchen, so Sammlungskurator Holger Broeker, wie es seine Bestände sinnvoll ergänzen möchte. In dem Kapitel „Erinnerung“ etwa sind es drei Tafeln von Mischa Kuballs Rezeptionskritik an Werk und Person Emil Nolde. Sie ergänzen seine kulturgeschichtliche Reflexion „making of Mnemosyne (after Aby Warburg)“ zum unvollendet gebliebenen Bilderatlas des legendären Hamburger Kunstwissenschaftlers. Und treffen das Wesen einer jeden Ausstellung wie der institutionellen Selbstverpflichtung eines Museums, das Sammeln: ein unvoreingenommen vergleichendes Sehen quer durch Jahrhunderte und künstlerische Gattungen.