Die Schönheit der Dinge – Stillleben von 1900 bis heute. Gegenwart des Vergehens

Luzia Simons, Stockage 76-AP2, 2009, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Kunsthalle Emden
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31. Juli 2024
Text: Peter Boué

Die Schönheit der Dinge. Stillleben von 1900 bis heute.

Kunsthalle Emden, Hinter dem Rahmen 17, Emden.
Dienstag bis Freitag 10.00 bis 17.00 Uhr, Samstag bis Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 10. November 2024.

www.kunsthalle-emden.de

Hans Platschek, Tote Fische, 1987, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Kunsthalle Emden
Kai Fischer, After Brueghel III (The Flowers of Brussels), 2024, © Kai Fischer, Courtesy the artist
Ori Gersht, Pomegranate, 2006, Videostill, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Courtesy the artist

[—artline Nord] Die Ausstellung „Die Schönheit der Dinge“ empfängt mit einem Bild, das all das zeigt, was ein Vanitas-Stillleben beinhalten muss: das geöffnete Buch, wie soeben noch gelesen, das geleerte Glas, die Blume und die halbgeschälte Zitrone. Die gerade verloschene Öllampe neben dem Totenschädel. Der Globus und der Nautilus, die beide auf die Wunderkammern des Kolonialismus verweisen, wie sie im Goldenen Zeitalter der Niederlande zur Mode wurden. Dieses Bild von Abraham Susenier aus dem 17. Jahrhundert zeigt in voller Konzentration den Kontext, in dem sich die Ausstellung bewegt: Die Dinge des Lebens, die uns umgeben, zusammengeführt – und die Zeit, die bleibt, sie zu genießen. So geraten wir schon in diesem Raum in unsere eigene Zeit, denn zwei Ensembles von Hans Op de Beeck („Still Life“, 2021) mit lebendgroßen Vasen, Früchten, Schädel und Kerzen antworten direkt in dieser Sprache des Memento mori – inklusive einem über allem thronenden Pfau, mit Korallen und darin schwimmenden Fischen, alles in einem herrlichen, das Licht schluckenden Betongrau innerhalb der hier ebenso angestrichenen Wände. Dazu passt das thematisierte Verstreichen der Zeit, von Matthias Langer in seiner Serie „O.T. (18 Stunden)“ mit Bildern von niederbrennenden Kerzen, in Langzeitbelichtungen festgehalten.

Kuratorin Lisa Felicitas Mattheis gibt den Stillleben, die einst als mindere Gattung der Malerei galten, mit der Ausstellung einen Raum, der sich von den bekannten experimentellen Bildern des Kubismus oder Expressionismus bis in die Gegenwartskunst weitet. Die Emblematik des Barock, auf der unser Bild des Still Life oder Nature Morte fußt, hat sich seit 1900 mit den veränderten Bildwürdigkeiten weiterentwickelt: So spielen hier nahezu alle Bereiche avantgardistischer und avancierter Kunst eine Rolle, von der Antikunst über private Erzählungen bis zur Demokratisierung.

Folgerichtig gibt es in der Ausstellung auch keine chronologische Reihenfolge, sondern die Werke sind nach Bezügen und Kontexten gruppiert. Das Blumenstillleben etwa ist hier nicht nur ein Motiv, sondern ein weiteres, überaus reiches Feld in einem großen Raum, der neben Bildern von Christian Rolfs oder Emil Nolde von einer Fotografie von Luzia Simons („Stockage 76“, 2009) mit überreifen Tulpen auf sattem Schwarz dominiert wird. Dass Pflanzen auch auf andere Weise Vanitas-Motive sein können, davon zeugen die hochglänzend lasierten Keramiken Gerrit Frohne-Brinkmanns von fleischfressenden Arten. Diese „Carnivore“ betitelte Serie von Kleinplastiken beeindruckt durch die Provokation ihrer nach außen getragenen Mischwesennatur. Interessant sind auch vom Bild her gedachte Hängungen wie Georg Scholz’ neusachliches Kakteen-Stillleben vor dem Fenster von 1925 in der Nachbarschaft sowohl Frohne-Brinkmanns als auch eines realen Fensters. In einem ganz schwarz ausgeschlagenen Raum mit zwei ziemlich blutroten, aus dem Dunkel herausleuchtenden Stillleben ist Ori Gershts Videoarbeit „Pomegranate“ von 2006 zu sehen, die zur Hälfte nichts als ein barockes Bild mit hängenden Früchten zu zeigen scheint – bis in Superzeitlupe eine Gewehrkugel einen Granatapfel zerschlägt und dessen tiefrotes Inneres über das Bild verteilt.

Die Ausstellung verlässt sich nicht auf offensichtliche Kongruenzen zwischen den Werken, sondern verfährt hintergründiger. In einem Raum mit Bildmotiven von Schalen, Krügen und Bechern aus unterschiedlicher Herkunft befinden sich auf hohen Sockeln die „Abwaschskulpturen“ von Nicole Wermers: Geschirr und Besteck hoch diverser Provenienz in Körben arrangiert, übervoll am Limit – und damit kunstvoll, denn es geht genau darum, wieviel Wertvolles mit minderem Porzellan arrangiert werden kann, bevor alles zusammenfällt. Die Ausstellung mit rund 80 Arbeiten endet mit dem 11-Kanal Video „Pause“ (2020) von Christoph Girardet, das aus einer Fülle von einzelnen Kurzsequenzen anderer Filme besteht – das Stillgestellte ist hier nicht länger still gestellt, sondern verweist, wie das Thema selbst, auf unsere Zeit.