Günter Brus: Ritzen und defäkieren

Günter Brus
Günter Brus, Wiener Spaziergang, 1965, Ausstellungsansicht Kunsthaus Bregenz 2024, 2. OG, Foto: Markus Tretter, Courtesy the artist, © Günter Brus, Kunsthaus Bregenz
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3. April 2024
Text: Christian Gampert

Günter Brus.
Kunsthaus Bregenz, Karl-Tizian-Platz, Bregenz.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 20. Mai 2024.
www.kunsthaus-bregenz.at

Günter Brus
Günter Brus, Europa, 1979, Ausstellungsansicht Kunsthaus Bregenz 2024, 3. OG, Foto: Markus Tretter, Courtesy the artist, © Günter Brus, Kunsthaus Bregenz
Günter Brus
Günter Brus, Ausstellungsansicht Kunsthaus Bregenz 2024, 1. OG, Foto: Markus Tretter, Courtesy the artist, © Günter Brus, Kunsthaus Bregenz

Ein Mann spaziert durch Wien. Er ist am gesamten Körper weiß bemalt, der Kopf, der Anzug, Hände, Schuhe. In der Körpermitte läuft, senkrecht, vorne und hinten eine schwarze Linie nach unten, eine Narbe, die den Körper teilt. Auch der Kopf scheint verletzt, wie von einem chirurgischen Eingriff. Als Günter Brus 1965 in diesem Aufzug durch die Wiener Hofburg und angrenzende Gebiete lief, war alsbald die Polizei zur Stelle, die die öffentliche Ordnung gestört sah. Eine Störung war die Kunst der Wiener Aktionisten in der Tat: anarchische Gegenbilder zur postfaschistischen Bürgerlichkeit, die bei Hermann Nitsch aus Orgien und Mysterien, bei Otto Muehl aus Materialschlachten und Schweinerein aller Art bestanden. Die Aktionisten gründeten Gruppen und Sekten und feierten sich selbst. Günter Brus (1938-2024) aber war derjenige unter ihnen, der konsequent den eigenen Leib zum Medium seiner Kunst machte. Es gab in den Performances nur ihn, den einzigen Protagonisten.

Diese Form des Sich-Selbst-aufs-Spiel-Setzens hat freilich eine Vorgeschichte, die die großartige Bregenzer Ausstellung auch darbietet. Das Misstrauen gegen das Tafelbild, das Gefühl, mit Bildern nichts mehr erzählen, geschweige denn bewirken zu können, beginnt bei Brus mit einer sehr späten Rezeption von Informel und abstraktem Expressionismus in den 1960er Jahren. Hatte Brus auf der Kunstakademie noch im Zeichnen architektonischer Strukturen Halt gesucht, aber auch schon mit Bildschwärzungen und Schlitzungen begonnen, so schlägt er wenig später mit wilden Pinselhieben schwarze Farbe aufs Packpapier – was zum Teil originelle Kompositionen ergibt. Aber die Aggressivität gegen das Bild deutet schon an, das der Ausstieg aus dem Bild unvermeidlich wird, was bei einer späteren Aktion auch tatsächlich geschieht, als sich ein vollständig mit Schwarz beschmierter Brus aus malträtierter Leinwand und Bilderrahmen herausschält.

Das heißt nun, dass der weiß sgeschminkte Körper selbst zur Malfläche wird – von dem eine schwarze Linie sich in den Raum hinein fortsetzt. Brus‘ Kopf sieht dabei aus wie eine Totenmaske, vielfach verletzt, von chirurgischen Instrumenten umgeben. Die Totenstarre, die der Faschismus auch über Österreich gebracht hatte, setzt sich fort in einer Nachkriegsgesellschaft, die den Einzelnen bis ins Einzelne kontrolliert. Brus reagiert darauf, indem er in seinen Aktionen konsequent das Verleugnete und Schambesetzte zum Thema macht: wer unter Absingen der Nationalhymne uriniert und defäkiert, dem war im Österreich der 1960er Jahre nicht zu helfen – und der Dank der Nachwelt nicht unbedingt sicher. Aber so kam der tabuisierte – lebende – Körper wieder in die Kunst.

Brus zeigte geburtsähnliche Vorgänge und setzte bei den Performances seine gesamte Familie ein. Er forderte immer wieder die Staatsmacht heraus und musste wegen einer drohenden Haftstrafe nach Berlin fliehen. Aber im Prinzip wandte er sich schon in den 1960er Jahren gegen jene Mechanismen staatlicher Kontrolle, die Michel Foucault wenig später in „Überwachen und Strafen“ beschrieb. Die Zurichtungen und Verletzungen, die uns allen von anonymen Mächten täglich zugefügt werden, hat er ins Bild, in die Performance gebracht. Als er bei einer Aktion namens „Zerreißprobe“ – in Windeln und Strapsen – sich mit Rasierklingen ritzte und sich spastisch in Ecken wand, war eine Grenze erreicht. Er wollte dann doch noch ein bisschen leben und Familienvater sein. Die Bregenzer Ausstellung zeigt deshalb, auf seinen Vorschlag hin, viele seiner von Literatur inspirierten Arbeiten der späteren Jahre, zu William Blake, Victor Hugo, Georg Trakl. Er schrieb auch selber und muss an allen Wirtshaustischen ein sarkastischer Alleinunterhalter gewesen sein. Die ganz späten, während der Pandemie entstandenen Aquarelle haben etwas Humorvoll-Versöhnliches, aber auch hier malt er schon mal einen „Neurosenkavallier“, mit zwei L, weil das von Kavallerie kommt. Die großartige Ausstellung zeichnet die innere Bewegung, die Dynamik dieses Künstlerlebens nach. Vom Exzess bis zu einer, hoffentlich, gelegentlichen Ruhe am Schluss. Sie ist ein schönes Requiem.