Jeff Wall: Inszenierte Wirklichkeiten

Jeff Wall
Jeff Wall, Morning Cleaning, Mies van der Rohe Foundation, Barcelona, 1999, Courtesy Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf © Jeff Wall
Review > Basel > Fondation Beyeler
8. März 2024
Text: Dietrich Roeschmann

Jeff Wall.
Fondation Beyeler, Baselstr. 101, Basel-Riehen.
Montag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch 10.00 bis 20.00 Uhr, Freitag 10.00 bis 21.00 Uhr.
Bis 21. April 2024.
www.fondationbeyeler.ch
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen: Hatje Cantz, Berlin 2024, 248 S., 58 Euro | ca. 75.90 Franken.

Jeff Wall
Jeff Wall, Boxing, 2011, Courtesy the artist, © Jeff Wall
Jeff Wall
Jeff Wall, Boy falls from tree, 2010, Courtesy Emanuel Hoffmann-Stiftung, © Jeff Wall

Es ist nur ein kleiner Unfall. Und selbst das ist auf den ersten Blick kaum zu erkennen, zwischen all dem Laub, aus dem der Junge kopfüber vom Dach des Gartenhauses stürzt. Ein Ausrutscher, Resultat einer kleinen Unachtsamkeit. Wirklich? Jeff Wall (*1946) richtete für seine Fotografie „Boy falls from tree“ 2010 ein ganzes Filmset ein, mit Leuten, die sich um die Requisite und die Beleuchtung kümmerten, und natürlich um das Casting des jungen Schauspielers für den Stunt vom Dach. Das ist typisch für Wall: Vermeintliche Zufälle oder scheinbar unspektakuläre Alltagsszenen so perfekt vor der Kamera zu inszenieren, dass sie auf den ersten Blick authentisch wirken. Doch dann setzt langsam der Zweifel ein. Weil hier jeder Quadratzentimeter nicht nur scharf ist, sondern jedes Detail auf geradezu obsessive Weise beabsichtigt, gestaltet, komponiert, arrangiert – und zwar oft vor dem Drücken des Auslösers. Das macht die eigentümliche Faszination von Walls Bildern aus. Es sind Fotografien im analogen, mechanischen Sinn, denen ein intensiver Prozess der Vorbereitung vorausgeht, wodurch sich ihr zeitliches Gerüst auf subtile Weise verschiebt. Oft wirken sie deshalb seltsam irreal, wie Standbilder aus rückwärts projizierten Filmen. Ab Mitte der 1990 Jahre nutzte Jeff Wall dann auch digitale Bildbearbeitungsprogramme, um unzählige analoge Einzelbilder zu ganzen Tableaus zusammenzusetzen.

Die berühmtesten Wirklichkeitsinszenierungen des in Vancouver lebenden Fotokünstlers sind derzeit in einer umfassenden Retrospektive in der Fondation Beyeler zu sehen. Die Schau, die mit 55 Fotografien rund ein Viertel seines Gesamtwerkes umfasst, wurde von ihm selbst zusammen mit Martin Schwander eingerichtet. So präsent die Bilder hier allein schon aufgrund ihrer Maße und ihrer Strahlkraft als Großbilddias in Leuchtkästen sind, so hartnäckig entziehen sie sich dem oberflächlichen Blick, den sie zunächst provozieren. Was sie erzählen, liegt meist außerhalb der Fotografie, oft auch außerhalb der physischen Wirklichkeit, in der Welt der literarischen Bilder oder der Auseinandersetzung mit kunsthistorischen Vorlagen. Das Leuchtbild „After ‘Invisible Man’“ nach Ralph Ellisons Roman von 1952 etwa zeigt seinen Schwarzen Protagonisten in einem von Hunderten von Glühbirnen erleuchteten Keller, in den er sich nach erfolglosem Kampf gegen die eigene Unsichtbarkeit in der Welt der Weißen zurückgezogen hat. Jeff Wall inszenierte den Keller hier als Brutstätte der Selbstermächtigung gegen die zerstörerische Kraft des Rassismus. Dass es das gesamte Setting so nie im Studio gegeben hat, sondern Stück für Stück am Computer zusammengesetzt wurde, lässt sich als Hommage an die literarische Imagination verstehen.

Dem Bedürfnis nach einer fotografischen Untersuchung ikonischer Motive folgen auch seine kritischen Bildlektüren und -aktualisierungen von Dürer, Hopper und anderen, die er ausführlich im Katalog beschreibt. Ein berühmter Holzschnitt von Hokusai etwa inspirierte Wall zu der spektakulären Arbeit „A Sudden Gust of Wind“, auf der eine heftige Bö einer Beamtin auf freiem Feld einen Stapel Akten aus dem Arm weht. Gegen den heroischen Ernst historischer Schlachtengemälde inszenierte er das Monumentalbild „Dead Troops Talk“, das verwundete und gefallene Soldaten in Afghanistan beim Plaudern zeigt – eine bitterböse Satire über männliche Gewalt und die Sinnlosigkeit des Krieges. Dass Jeff Wall in seinen Arbeiten immer auch die sozialen und politischen Bedingungen des zeitgenössischen urbanen Lebens reflektiert, zeigen dagegen besonders seine dokumentarisch anmutenden Tableaus wie „Morning Cleaning“, das einen Putzmann als temporären Herrn über Mies van der Rohes legendären Barcelona Pavillon zeigt, oder die Schwarz-weiß-Fotografie „Men waiting“. Keiner der Tagelöhner, die hier am Straßenrand im Industriegebiet stehen, blickt in die Kamera, jeder ist für sich allein unter dem grauen Himmel und verliert sich in der beklemmenden Weite dieses Großformats.