Solange Pessoa.
Kunsthaus Bregenz, Karl-Tizian-Platz, Bregenz.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 4. Februar 2024.
kunsthaus-bregenz.at
In Europa ist Solange Pessoa für viele vermutlich noch eine Neuentdeckung. Nach zahlreichen Ausstellungen in ihrer Heimat Brasilien hatte sie 2022 eine wichtige Präsentation im Palais de Tokyo in Paris, außerdem war sie im vergangenen Jahr auf der Biennale in Venedig vertreten. Jetzt bespielt die 62-Jährige die vier Etagen im Kunsthaus Bregenz. Und wie immer haben die Bregenzer Ausstellungsmacher hier Dinge ermöglicht, bei denen Konservatoren anderer Museen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würden. In einer Etage etwa ist der Boden komplett mit Erde bedeckt, von der Decke hängen miteinander vernähte Jutesäcke, wie Wandteppiche als Raumteiler. In den Säcken ist ebenfalls Erde. Das alles ist aber nur das Gerüst für eine Art Archiv gespeicherter Naturkräfte: Lindenblüten und Schafgarbe, Currypulver und Silberdisteln, getrocknete Baumwollblüten, Samen und Getreidekörner, Kohlestücke und Knochenreste. Das alles duftet stark, nach einer Mischung aus feuchter Erde und Gewürzladen. Und mittendrin in diesem Naturkraftwerk: menschliche Speichermedien, Schallplatten von Chico Buarque und Marisa Monte, Zettel mit Gedichten, ein Handbuch über Anthrophagie oder ein Bild von Maria Leopoldine von Österreich, der Kaiserin von Brasilien. „Die Beziehungen zwischen Österreich und Brasilien dauern seit vielen Jahrhunderten an“, sagt die Künstlerin. „Überhaupt sind unsere Museen voll von europäischen Künstlern, deshalb habe ich für diese Arbeit Pflanzen aus Brasilien, aber auch von hier verwendet“. Kultur und Natur, Pflanzen und Menschen, Brasilien und Österreich. Alles steht in Beziehung zueinander.
Das gilt auch für die Arbeiten in der zweiten Etage. Große amorphe Gefäße verteilen sich im Raum oder wachsen aus den Wänden heraus. Ihre asymmetrischen Formen erinnern an Körper von Tieren oder Menschen. Solange Pessoa hat die Gefäße zunächst von Hand aus Ton geformt, in einer alten, traditionellen Technik, danach wurden sie in Bronze gegossen. Eine Versöhnung zwischen Handwerk und Kunst? Solche Interpretationen sind ihr zu verkopft. Aus den Öffnungen besagter Bronzegefäße wachsen trockene Blätter, menschliche Haare, Wolle, Federn, Stroh, ein Stück Fell heraus. Es sind organische Materialien, Reste von Tieren oder Pflanzen. Leben und Tod sind hier untrennbar miteinander verwoben. Das Ganze mutet rätselhaft an und archaisch, genau wie der Titel: „ó ó ó ó“. „Es geht um das Ursprüngliche, das Wilde“, sagt Solange Pessoa. „Es gibt eine große brasilianische Dichterin, Clarice Lispector, sie hat ein Buch geschrieben: Perto do Coração Selvagem – Nah am wilden Herzen. Ich habe auch ein wildes Herz!“
Im obersten Geschoss dann eine Reihe schwarzweißer Malereien: Schattenrisse einfachster Formen, amorphe Piktogramme. Sie zeigen Mischwesen, halb Lurch, halb Palme, halb Schlange, halb Mensch, halb Affe, halb Luftwurzel. Und in der Mitte des Raumes eine Art Lebensbaum. Als dunkler Stamm mit riesiger Krone schwebt er unter der hell leuchtenden Decke. „Miracéus – Schau in den Himmel“ heißt die Installation. Die Krone des Baums besteht aus zehntausenden Federn, allerdings nicht von Papageien oder Paradiesvögeln, es sind Federn in Braun und Grau. „Es geht nicht nur um die Federn, die Federn sind mit einem Körper verbunden, mit der Haut, genau wie Haare oder Wolle. Das sind keine isolierten Materialien, eines kommt aus dem anderen, aus der Epidermis. Es handelt sich um Hühnerfedern, also von Nutztieren. Die Federn bleiben übrig, sie sind ein Abfallprodukt und ich nutze sie.“
Leben und Tod, Tiere, Pflanzen und Menschen, alles ist bei Solange Pessoa miteinander verbunden, materiell und spirituell. So ganz genau könne sie ihre Arbeiten auch nicht erklären, sagt die Künstlerin. Und genau dieses Fünkchen Unverständliches, dieses Fremde, diese Ahnung, dass da etwas ist, was sich mit Worten nicht erklären lässt, macht die Kunst von Solange Pessoa so spannend.