Modigliani. Moderne Blicke.
Staatsgalerie Stuttgart, Konrad-Adenauer-Str. 30-32, Stuttgart.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 17. März 2024.
www.staatsgalerie.de
Für einen jungen Künstler konnte es Anfang des 20. Jahrhunderts wohl keinen aufregenderen und inspirierenderen Ort geben. Amedeo Modigliani (1884-1920) ist 21 Jahre alt, als er 1906 nach Paris kommt und ein Atelier im Künstlerviertel Montmartre bezieht. Bald schließt er sich dem Kreis der Avantgarde um Pablo Picasso, André Derain, Juan Gris und anderen an. Der in Livorno geborene Künstler sprach Französisch und Englisch, hatte bereits in Florenz und Venedig studiert und kannte die Bildtradition der italienischen Renaissance. In Paris begeistert er sich für die Gemälde von Cézanne, Matisse und Picasso, deren Einflüsse in frühen Porträts wie „Die Jüdin“ (1907/08) sichtbar werden. Modigliani übernimmt hier die dunkle, grün-blaue Farbpalette aus Picassos Blauer Periode, die Komposition der Figur mit farbigen Schattierungen erinnert an Matisse. Von Beginn an kennzeichnet alle Porträts Modiglianis der direkte, frontale Blick aus dem Bild. Der Blick auf seine Bilder hat sich in den letzten Jahren dank kunstwissenschaftlicher und -technologischer Forschung stark geändert.
Diese neue Perspektive auf das Werk Modiglianis präsentiert nun die Staatsgalerie Stuttgart. Sie gehört zu den nur vier deutschen Museen, in deren Sammlungen seine Arbeiten vertreten sind. Mit „Liegender Frauenakt auf weißem Kissen“ (1917) besitzt die Staatsgalerie einen jener Akte, die 1917 in der einzigen zu Modiglianis Lebzeiten ausgerichteten Einzelausstellung in der Galerie von Berthe Weill zu einem berühmten Skandal und zur späteren legendenumwobenen Rezeption Modiglianis als trinkendem Macho-Bohemien, der Prostituierte malte, geführt hatten.
Die in Zusammenarbeit mit dem Museum Barberini in Potsdam entstandene Ausstellung zeichnet Modiglianis Entwicklung ausgehend von seiner Ankunft in Paris nach und bettet sein Werk in einen europäischen Kontext ein. Zum ersten Mal werden seine Arbeiten – neben zahlreichen Gemälden auch Zeichnungen, Aquarelle und eine Skulptur – auch Künstlern und Künstlerinnen gegenüber gestellt, die außerhalb von Paris zur etwa gleichen Zeit an ähnlichen Themen arbeiteten, vornehmlich der Darstellung des Menschen. So malten Paula Modersohn-Becker und Egon Schiele einige Jahre vor Modigliani Kinderporträts, die in ihrer Komposition als in sich geschlossene Halbfiguren ohne äußerliche Verweise auf einen sozialen Hintergrund eine existenzielle Ernsthaftigkeit vermitteln, die Modiglianis „Mädchen in schwarzer Schürze“ (1918) vergleichbar ist. Auch auf seine Akte ergeben sich in der Zusammenschau neue Blicke. So weisen frühe Skizzen in ihrem freien, dynamischen Strich Ähnlichkeiten mit Studien zu Tänzerinnen von Auguste Rodin auf, während die späten, großformatigen Bilder, die den nackten weiblichen Körper durch das Anschneiden der Extremitäten nah an die Betrachtenden heranholt, in ihrer direkten Darstellungsweise Gemeinsamkeiten mit Modersohn-Becker oder Émilie Charmy haben und ein neues Bild von selbstbestimmten, emanzipierten Frauen vermitteln. Den Typus der neu aufkommenden femme garçonne, der besonders in den 1920er Jahren weit verbreitet war, dokumentierte Modigliani bereits ab 1915. Er porträtierte viele befreundete Künstlerinnen, Schriftstellerinnen und Intellektuelle, die mit Bubikopf und in männlicher Kleidung selbstbewusst die gängigen Geschlechterzuschreibungen negierten und ihre gleichwertige Stellung neben den männlichen Kollegen behaupteten.
Die Ausstellung vermittelt das gleichberechtigte und fruchtbare Miteinander von Künstlerinnen und Künstlern sowie die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Strömungen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. In diesem erweiterten Kontext tritt die singuläre Position Modiglianis hervor, der sich keiner Strömung anschloss, sondern vielfältige Einflüsse der Moderne mit gezielten Rückgriffen auf die Renaissance sowie die klassische Antike verband und in seinem kurzen Leben ein Werk erschuf, das in seiner Vielfältigkeit nun neu entdeckt werden kann.