Zeit. Von Dürer bis Bonvicini.
Kunsthaus Zürich, Heimplatz 1, Zürich.
Dienstag, Freitag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch und Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 14. Januar 2024.
www.kunsthaus.ch
Zur Ausstellung ist eine Publikation erschienen: Snoeck, Köln 2023, 320 S., 58 Euro | ca. 78.90 Franken.
Am konsequentesten hat sich – wahrscheinlich – der japanische Konzeptkünstler On Kawara (1932-2014) mit Zeit und Zeitlichkeit auseinandergesetzt. Er malte jeden Tag ein Bild, auf dem, meist auf schwarzem Grund, das Datum des jeweiligen Tages in weißer Schrift erschien. Natürlich sind mehrere dieser Werke, Meditationsübung und Existenzbeweis in einem, in der Züricher Ausstellung zu sehen. Und obwohl On Kawara seit 2014 tot ist, hat er sich mit diesen Werken ein bisschen unsterblich gemacht. Jeden Tag ein Bild! Man wundert sich, dass jetzt nichts mehr kommt.
Die Zeit nagt an uns, ständig. Vergangenheit und Zukunft bedrängen und beunruhigen ganze Gesellschaften; die glückhafte Erinnerung ist eher selten – und über dieses Thema eine Ausstellung zu machen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Insofern muss man Sympathie und Nachsicht haben mit der Kuratorin Cathérine Hug, die sich dieser Aufgabe gestellt hat. Biologische Zeit, also Altern und Vergänglichkeit, werden ebenso behandelt wie die protestantische Wirtschaftsethik, nach der bekanntlich Zeit Geld ist. Informations-Überflutung, die uns die Zeit stiehlt, kommt ebenso vor wie die so genannte „eigene“ Zeit, die wir – vielleicht – für uns selber haben.
Die Ausstellung beginnt mit drei Video-Schirmen der Schweizer Künstlerin Monica Ursina Jäger (*1974), auf denen Großstadt-Strukturen in Wasserfälle, Licht und wilde Gebirgspanoramen montiert werden – sprich: vom Urknall aus gesehen, also in einer Zeitperspektive von 13,8 Milliarden Jahren, ist die Menschheit nur die jüngste Fußnote im Weltall. Allerdings erforscht diese menschliche Spezies sich selber, sie kennt die zyklisch wiederkehrende oder die verrinnende Zeit, sie kennt Anfang und Ende, und sie schafft Kunstwerke. Die Zeitrechnung der Ausstellung beginnt mit Albrecht Dürer (1471-1528) und einem allegorischen Kupferstich zur Melancholie, also mit der Renaissance, und sie endet mit einem Werk der italienischen Gegenwartskünstlerin Monica Bonvicini (*1965), die aus lauter Edelstahl-Digitaluhren eine Weltkugel formt. Uhren sind auch ein wiederkehrender Taktgeber der Ausstellung, einerseits Sand- und Sonnenuhren, historische, also mechanische Uhren, aber auch Spitzenprodukte der Schweizer Uhrenindustrie, darunter teure Dinge, die Tennissportler bei der Siegerehrung anzulegen pflegen. Die Ausstellung zeigt auch den Film eines kubanischen Künstlerkollektivs, in dem immer älter werdende Paare miteinander schlafen – gleich nebenan stehen dann mechanisch ineinander greifende Uhrwerke aus dem 18. und 19.Jahrhundert. Das ist natürlich fein gedacht.
Man kann die Ausstellung als großes Brainstorming zum Thema Zeit betrachten und ihre Beliebigkeit kritisieren. Man kann aber auch sehen, welcher Reichtum an Werken hier gezeigt wird und wie oft Zeit und Vergänglichkeit, direkt oder indirekt, in der Kunst eine Rolle spielen – vom Memento Mori und welkenden Stillleben bis zu den schmelzenden Formen der Surrealisten und dem Geschwindigkeitsrausch des Futurismus, vom Torso bis zu segmentierten Bewegungs-Fotos und Essensrest-Assemblagen, von kolonialistisch ausfahrenden Schiffen im Sturm auf hoher See bis zu zeitgetriebenen kleinen Menschlein in der Börse.
Natürlich sind hier viele ikonische Kunstwerke versammelt, und wer wieder einmal Man Rays Metronom mit Frauenkopf betrachten oder mit Thomas Ruff in den Weltraum schauen will, der ist hier richtig. Überraschend ist die hohe Zahl großartiger Arbeiten aus der Gegenwart. Nur eine sei erwähnt: der Schweizer San Keller (*1971) zeigt sich auf Video beim Einschlafen, stellt ein Bett für das Publikum vor den Monitor und fragt: wer schläft zuerst? In dieser Ausstellung schläft man eher nicht. Dazu gibt sie einfach zu viele Anregungen.