André Thomkins, Panta rhei/Ein Unikat in Serie. 75 Jahre Edition VFO: Sonnenschirme, Schattenspiele und eine Postkarte

André Thomkins, Der Knopf auf das Ei genäht zeugt für die Kunst, 1966, © André Thomkins Estate, Foto: Laura Hadorn
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4. November 2023
Text: Helen Lagger

André Thomkins, Panta rhei. Druckgrafiken.
Ein Unikat in Serie. 75 Jahre Edition VFO – Verein für Originalgraphik.
Kunsthaus Grenchen, Bahnhofstr. 53, Grenchen.
Mittwoch bis Samstag 14.00 bis 17.00 Uhr, Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 28. Januar 2024.
www.kunsthausgrenchen.ch

Louisa Gagliardi, Pique-nique Sauvage 3, 2019, © Louisa Gagliardi
Charlotte Herzig, _LOVE_ (miniature), 2022, Courtesy the artist

Eine verhüllte Staffelei verweist darauf, dass hier bald etwas enthüllt wird. Tatsächlich wird an der Eröffnung der beiden neuen Ausstellungen im Kunsthaus Grenchen schliesslich das Tuch gelüftet. Enthüllt wird die von Rebekka Steiger (*1993) für die Schweizerische Post gestaltete Briefmarke: Eine Reiterfigur in einer Landschaft. Es ist ein wiederkehrendes Motiv in der Malerei von Steiger, die 2020 ihr Werk im Rahmen einer Einzelausstellung im Kunsthaus Grenchen präsentieren konnte. Ursprünglich liess sich die Künstlerin von Fotografien mongolischer Krieger inspirieren. Fortan reist nun eine ihrer Reiterfiguren auf Briefen und Postkarten um die Welt. Das Thema Reproduktion und Unikat steht auch in den beiden aktuellen Ausstellungen des Kunsthauses im Fokus. Das hat hier Tradition. Grenchen gilt schliesslich als Kompetenzort der Druckgrafik und hier findet auch seit 1958 die Triennale statt, die Druckgrafik aus aller Welt präsentiert.

Robin Byland, der 2022 die Leitung des Kunsthauses von Claudine Metzger übernommen hat, spannt nun mit einem anderen Kompetenzzentrum für Druckgrafik zusammen, dem Verein für Originalgraphik, kurz: VFO Zürich. Gemeinsam mit VFO-Geschäftsführer David Khalat hat er die Ausstellung „Ein Unikat in Serie. 75 Jahre VFO“ kuratiert. Zuvor war die Schau im Musée Jenisch in Vevey und in der Villa dei Cedri in Bellinzona zu sehen. Im Kunsthaus Grenchen dreht sich nun alles um das Thema „Unikat“, das man normalerweise nicht mit Druckgrafik verbindet. „Was ein Unikat ist, ist keine kunsthistorische, sondern eine philosophische Frage“, so David Khalat. Zwei bunte, nicht aufgespannte Sonnenschirme hat etwa der Genfer Künstler Denis Savary in Linolschnitt-Technik gestaltet. „Figueras“ wirken als wären sie direkt auf Leinwand gemalt worden. Auf alle möglichen Drucktechniken stösst man in der Schau. Das „haarige“ Bild von Mirko Baselgia etwa ist ein so genannter „Felldruck“, während andere mit Inkjet, UV-Digitaldruck, Lithografie, Stempel und Aquarell ihre Unikate gestaltet haben. Alfredo Aceto hat mit „Untitled(Tie)“ eine Serie von Krawatten aus Filz, Holz und Krawatten-Pin geschaffen, die er wie in einer Armani-Boutique, als Unikate einzeln an die Wand hängt. 

In der Einzelschau „Panta rhei“ würdigt Robin Byland dagegen das druckgrafische Werk von André Thomkins (1930-1985), einem gebürtigen Luzerner, der mit Dieter Roth und Daniel Spoerri die so genannte „Eat Art“ schuf – Kunstwerke und Aktionen, die mit dem Thema Essen in Beziehung stehen. Während Roth und Spoerri in die Kunstgeschichte eingingen, fristet Thomkins vergleichsweise ein Schattendasein. Dabei nahm er zweimal an der Documenta in Kassel teil und hinterliess ein umfangreiches Werk, bestehend aus Malerei, Zeichnung, Dichtung und Druckgrafik. Er sei zum Schluss gekommen, dass die relativ geringe Bekanntheit des Künstlers mit der Bewertung und Einschätzung seines Werkes zu tun habe, das seinem Können nicht gerecht werde, so Byland in seiner Eröffnungsrede. Pantha rei – was so viel bedeutet wie „alles fliesst“, ist eine Lehre, die auf den griechischen Philosophen Heraklit zurückgeht und der ein Weltverständnis zugrunde liegt, das von einem ständigen Werden und Vergehen ausgeht.

Das passt ganz gut zu Thomkins und seinem Gestaltungsprozess. In der Offset-Lithografie „Mühlebild“ scheint alles gleichzeitig zu passieren, im Fluss zu sein. Menschen in Mühlerädern gefangen, lassen an mittelalterliche Darstellungen denken, in denen die Mühle bereits als Symbol für eine „Wesensverwandlung“ stand. Tritt man hinter den Vorhang im Neubau, entdeckt man ein Schattentheater, in dem Thomkins verschiedene Figuren aufeinandertreffen lässt. Ein Doppelporträt (Offset/Irisdruck), das Daniel Spoerri und den Künstler selbst zeigt, entstand 1972. Es ist das Aufgeräumteste unter Thomkins Bildwelten, die sonst eher flutartig und apokalyptisch daherkommen. Diese Rätselhaftigkeit und Komplexität zu erfassen, braucht etwas Zeit – möglicherweise mit ein Grund, warum Thomkins bisher unter seinem Wert gehandelt wurde.