Anna Ehrenstein

Anna Ehrenstein, Courtesy the artist
Porträt
16. Oktober 2023
Text: Bettina Maria Brosowsky

Anna Ehrenstein & Allies.

Kunstverein Braunschweig,
Remise, Lessingplatz 12, Braunschweig.
Dienstag bis Freitag 12.00 bis 18.00 Uhr, D
onnerstag 12.00 bis 20.00 Uhr,
Samstag und Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr.
2. Dezember 2023 bis 18. Februar 2024.

www.kunstvereinbraunschweig.de
annaehrenstein.com
@annaehrenstein

Anna Ehrenstein, Brian Montshiwa, Mahube Diseko, Chommie – the digital closet (2022-2023), courtesy the artists, KOW Berlin and Office Impart
Anna Ehrenstein mit Will Fredo, Brujas, Putas, Regalos de Dios, 2017-2020, Kunststation Wolfsburg, 2022, Foto: Ali Altschaffel
Anna Ehrenstein, Rebecca Pokua Korang, Heiko-Thandeka Ncube, A Potent Drop, 2022-2023, CCA Berlin, 2023
Anna Ehrenstein, Zen For Hoejabi, 2018, Kunstmuseum Wolfsburg, 2022

[— artline Nord] Die deutsch-albanische Künstlerin verhandelt in ihren oft partizipativen Arbeiten die Machtungleichgewichte in Kunst und Gesellschaft.

Bislang gibt es nur den Arbeitstitel: Anna Ehrenstein & Allies, aber fest terminiert steht, dass die deutsch-albanische Künstlerin zum Jahreswechsel in der Remise des Kunstvereins Braunschweig ausstellen wird. Es wird auch nicht der erste Auftritt der 1993 Geborenen im Norden sein, sondern eher ein näheres Kennenlernen der vielfältigen und vor allem ästhetisch opulenten bis provokant schrillen künstlerischen Praxis Ehrensteins. Im letzten Herbst sorgte sie ja bereits für Aufsehen, als sie in Wolfsburg eine der zyklisch installierten Kunststationen im Hauptbahnhof realisierte. Dieser nur 15 Quadratmeter große Wartebereich wird seit 2007 mehrmals im Jahr künstlerisch interpretiert, eine Kooperation zwischen Deutscher Bahn, Städtischer Galerie Wolfsburg und einer lokalen Wohnungsbaugesellschaft. Anna Ehrenstein ging in Kollaboration mit Will Fredo zu Werke und scheute nicht zurück vor christlicher Motivik. Ihre Bildarrangements an den zwei Seitenwänden zeigten auf den ersten Blick konventionelle Heiligenfiguren. Auf den zweiten offenbarten sie Transaktivist:innen, denen die Kirchen ja nur bedingt aufgeschlossen begegnen. Ein großes Kruzifix etwa lag in einer Hand mit langen künstlichen Fingernägeln, alles in intensivem Rot mit viel Plas­tik-Deko gehalten. Dieser sehr spezielle „Andachtsraum“ zelebrierte somit Brüche und Regelverstöße bis hin zu queerfeministischer Blasphemie: „Hexen, Huren und Gottesgeschenke“, wie der Titel lautete.

Das Mixen von Trivialkultur bis hin zum Trash mit Hochkultur ist ein Markenzeichen Ehrensteins. Ebenso ihre Kooperationen, oft mit Auslandsaufenthalten und intensiven kulturellen und gesellschaftspolitischen Recherchen verbunden. In Kolumbien hatte sie etwa mit dem „House of Tupamaras“ ein 360°-Video zu den komplexen Realitäten für aufstrebende Künstler:innen produziert, mit einem senegalesischen Modekollektiv die Utopie digitaler Technologien als neutralem Werkzeug hinterfragt oder mit der Gruppe 4DHD im Kaffeesatz gelesen. Hier knüpfte sie unmittelbar an ihre teilweise Sozialisation in Südosteuropa an, gehört es in dortigen Kulturen sowie in vielen des Nahen Ostens nach wie vor zur guten Tradition, so über die Zukunft, auch des Einzelnen, zu orakeln.

Anna Ehrenstein wurde als Kind albanischer Eltern in Deutschland geboren. Während ihre Mutter ein Arbeitsvisum erhielt, verließ ihr Vater Deutschland nach der Ablehnung seines Asylantrags und begann ein neues Leben in Tirana. Aufgewachsen als Pendlerin zwischen Albanien und Deutschland, mittlerweile in Tirana wie Berlin arbeitend, hat Ehrenstein aus dieser besonderen Biografie ihr künstlerisch-gesellschaftspolitisches Instrumentarium entwickelt. Sie hat Fotografie und Medienkunst in Dortmund und Köln studiert, ihre Bildwelten dann allerdings zu einer stark inszenierten Variante radikalisiert, die diesen Charakter auch offensiv zur Schau stellt. Ihre Arbeiten durchqueren materielle Kulturen der Peripherie, kombinieren Medien unterschiedlicher Technologien mit Performance, Text oder Installation.

Ehrenstein ist eloquent, in der Kunstkritik wird sie als „unglaublich brillant und unglaublich fleißig“ gefeiert. Aber es brauchte Zeit, bis ihre spezifische Kunstform heranreifte. Sie reflektiert gesellschaftspolitische Machtungleichgewichte, wie sie exemplarisch ihre Eltern betrafen. Wer die Macht hat zu leben und wer, etwa durch ein Visasystem, existenziell benachteiligt ist: das war ihre Urerfahrung. „Aber ich brauchte eine Weile, um es zu verstehen”, so Ehrenstein. Machtungleichgewichte beherrschen auch die Kunst, Fotografie, Medien und besonders den Kunstmarkt. Ehrensteins Antworten darauf sind oft niedrigschwellig partizipative Gesprächs- und Workshop-Formate in ihren Ausstellungen, mit landläufig als wenig kunst- oder kulturaffin geltenden Szenen. In Braunschweig werden es junge Kraftsportler:innen sein.