Walid Raad: Cotton Under My Feet: The Hamburg Chapter.
Hamburger Kunsthalle,
Glockengießerwall 5, Hamburg.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr,
Donnerstag 10.00 bis 21.00 Uhr.
Bis 12. November 2023.
[— artline Nord] Ein kostbarer Perserteppich aus dem 16. Jahrhundert, der schwerer ist als sein Gewicht, steht am Anfang einer Reise durch Bilder und Botschaften im Gründungsbau der Hamburger Kunsthalle, die auf vielen Pfaden gleichzeitig verläuft und in multipler Hinsicht einer Magical Mystery Tour gleicht. In seinem raumgreifenden Parcours „Cotton Under My Feet –The Hamburg Chapter“ verwickelt der mehrfache Documenta-Teilnehmer Walid Raad das Publikum in ein anspielungsreiches Seh- und Denkabenteuer der doppelten und dreifachen Böden und Wahrnehmungen – Raad selbst ist während der Laufzeit regelmäßig vor Ort. Vom ornamentreichen Teppich ausgehend verweben sich die multiplen Stränge, die der 1967 in Chbanieh, Libanon, geborene und in New York lebende Künstler als ästhetische Fäden und Fallstricke zur poetisch-politischen Awareness-Steigerung auslegt. Seine Performance-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, eine Fortführung seines gleichnamigen Projekts von 2021/2022 im Museum Thyssen-Bornemisza in Madrid, entstand in Kooperation mit dem Internationalen Sommerfestival 2023 der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel. Sie führt von den Alten Meistern durch verschiedene Säle und verknüpft Bestände aus der Sammlung der Kunsthalle mit Werken des Künstlers. Fakten und Fiktionen, historische und gegenwärtige, reale und ausgedachte Ereignisse gehen dabei naht-, wenn auch nicht bruchlos, ineinander über.
Unter Walid Raads Führung erfahren wir, dass der bedeutende Kunstsammler Baron Heinrich Thyssen-Bornemisza ursprünglich vorhatte, sein Caspar-David-Friedrich-Gemälde „Ostermorgen“ mit dessen in der Hamburger Kunsthalle befindlichem Zwillingsstück „Frühschnee“ zu vereinen. Als der Plan scheiterte, schenkte der Baron der Kunsthalle, so die Legende, eine Gruppe von obskuren Kunstwerken, die bisher noch nicht zu sehen waren. En passant gibt der Künstler Auskunft über die Eigenheilungskraft von Engeln in Gemälden, die sich selbst restaurieren, indem sie auf flachen Ecken ruhen. Wir erfahren von Kobolden, die sich aus unerklärlichen Gründen unterhalb von Marschlandschaften des US-Malers Martin Johnson Heade verborgen haben. Oder von geheimnisvollen Wolkenstudien, die sich auf Rückseiten von Bildern befinden, deren Vorderansichten nicht betrachtet werden dürfen. Fragmente aus Raads persönlicher Familiengeschichte treffen auf die Geschichte von Kriegen und Befreiungsbewegungen sowie die Auswirkungen von kapitalgesteuerten Herrschaftssystemen. Sie fügen sich in „Cotton Under My Feet“ zu einem splitterreichen Puzzle, das sich von Raum zu Raum immer wieder zu anderen Bild- und Bedeutungskonstellationen zusammensetzt.
Ein Kopfhörer, aus dem Raads Stimme erklingt, lässt das Live-Erlebnis nachempfinden. Doch erweist sich der Rundgang in Anwesenheit des Geschichtenerzählers und Bildverknüpfers als essenziell für das tiefere Eintauchen in die rätselhaften, bisweilen auch gefährlichen Verstrickungen zwischen Kunst und Macht quer durch die Medien, Repräsentationen und Realitäten hindurch. Eine zentrale Figur, die sich im Zuge der multikodierten
Narrative des Künstlers immer wieder zeigt, ist die des Zwillings: des Doppelgängers oder der Doppelgängerin, des Gegenstücks und des Doubles, die ebenso wenig wie in diesem Fall Original und Fälschung voneinander zu unterscheiden oder gar zu trennen sind. Auf den Spuren der Zwillingspaare mündet jeder Weg in einer anderen Wahrheit oder Wirklichkeit. Auch wenn deren Relativität stets miteingebaut ist, bringt jede Aufhebung der Gewissheiten Erkenntnisvertiefung. Dort nämlich, wo sonst niemand hinschaut, in den Abseiten und Schatten, den Absurditäten und Unwahrscheinlichkeiten, lässt sich viel Profundes erkennen, die eigentliche Geschichte hinter den Fassaden und Rahmungen.