Alice Channer, Heavy Metals/Silk Cut: Die Welt sieht perfekt aus – sie ist es nicht

Alice Channer
Alice Channer, Megaflora, 2021, Courtesy the artist and Large Glass, Foto: Kunst­giesserei St. Gallen
Review > Appenzell > Kunstmuseum Appenzell
30. September 2023
Text: Larisa Baumann

Alice Channer: Heavy Metals / Silk Cut.
Kunstmuseum Appenzell, Unterrainstr. 4, und Kunsthalle Appenzell, Ziegeleistr. 14, Appenzell.
Dienstag bis Freitag 10.00 bis 17.00 Uhr, Samstag bis Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 8. Oktober 2023.
www.kunstmuseum-kunsthalle.ch

Alice Channer
Alice Channer, Planetary System (Kolzer DGK63"), 2019, Courtesy the artist and Konrad Fischer Galerie, Foto: Achim Kukieles
Alice Channer
Alice Channer, Mechanoreceptor, Icicles (red, red) (triple spring, triple strip), 2018 (r.), Detail, Courtesy the artist and Konrad Fischer Galerie, Foto: Lewis Ronald

Der Titel „Heavy Metals / Silk Cut“ verrät bereits viel über die Arbeitsweise von Alice Channer (*1977). Werden doch zwei sehr unterschiedliche Materialien gegenübergestellt: das harte, starre und kalte Schwermetall sowie die weiche, geschmeidige und leichte Seide. Materialien spielen in Channers Skulpturen und Installationen eine Hauptrolle. Meist vereint sie Gegensätzliches wie Stabiles und Fragiles, Neues und Vergangenes, Horizontales und Vertikales, Künstliches und Organisches oder Handgemachtes und industriell Gefertigtes in einem Werk und löst dabei nicht nur sichtbare, sondern auch emotionale Ambivalenzen aus.

„Silk Cut“ ist auch der Name einer britischen Zigarettenmarke und als Verweis auf eine Werbekampagne der Agentur Saatchi & Saatchi aus den 1980er Jahren zu verstehen. Statt des zu bewerbenden Produkts zeigte das grossformatige Plakat lediglich einen glamourösen, in Falten liegenden, violetten Satinstoff, der einen Schnitt aufweist. Alice Channer sah dieses Plakat als Kind in London und es hinterliess bei ihr einen prägenden Eindruck. Channer will mit ihrer Kunst Erwartungen widerlegen. „Megaflora“ ist eine monumentale, aus Aluminium sandgegossene Brombeerranke. Beim Umrunden der Arbeit zeigt sich, dass sie innen hohl ist. In ihren Werken rückt die Künstlerin Prozesse und Beziehungen in den Vordergrund, die uns in der industriellen und konsumorientierten Welt verborgen bleiben. An ihren Objekten, die sie häufig in Industriebetrieben bearbeitet, lässt Channer die Spuren der Maschinen und Handwerker:innen stehen. Diskret und doch präzise führt sie uns Auswirkungen unseres Handelns und unseres Umgangs mit Rohstoffen und der Umwelt im Allgemeinen vor Augen.

Besonders eindrücklich zeigt sich das in der begehbaren Skulptur „Birthing Pool“. Es ist ein Raum, der gefüllt ist mit schwarzen Pellets aus recyceltem HDPE; einem omnipräsenten Rohstoff für unterschiedlichste Produkte. In der Mitte des Raums befindet sich eine mit Stahl umrahmte Form, die geschichtete und gefaltete Textilien wie Damenleggings enthält. Es fühlt sich überraschend angenehm an, durch den Raum zu stapfen und sich in die Plastikmasse zu setzen. Doch beim Hinausgehen kommt das eine oder andere Pellet mit und es entsteht gewissermassen eine Verschmutzung des Nebenraums durch Makroplastik. Der ästhetische Reiz der Skulptur steht dem Wissen gegenüber, dass wir durch Kunststoffprodukte, Kosmetik oder synthetische Kleidung Mikroplastik in die Natur tragen. Eine ähnliche Zwiespältigkeit ruft „Rockpool“ hervor. Eine Art Pool, der nicht mit Wasser, sondern mit Salz gefüllt ist. Die raumübergreifende Skulptur verweist einerseits auf die Steinsalzgewinnung in den Schweizer Bergen, andererseits auf ausgetrocknete Gewässer. Die Form ist derjenigen einer Ölpestlache im Golf von Mexiko nachempfunden. Die Referenz zur Ölkatastrophe von 2010 steht in einem starken Kontrast zum reinen, weissen Salz. Mit „Pangolin“ schafft Alice Channer eine ortsspezifische Intervention an den Stoffstoren des Kunstmuseums. Dazu inspiriert hat sie ein Besuch im Naturmuseum St. Gallen, wo sie ein Schuppentier sah und vom Fund eines Fossils einer neuen Pangolin-Art erfuhr, die vor circa zwei Millionen Jahren in Europa lebte. Bei diesem Werk handelt es sich um den Druck einer Fotografie einer Skulptur aus gefalteter Seide, auf die zuvor bereits eine digital bearbeitete Fotografie appliziert wurde. Das Muster erinnert an die Schuppen des Pangolins, nimmt die Fassadenstruktur des Kunstmuseums auf und bildet mit „Soft Sediment Deformation (Iron Bodies)“ in der Kunsthalle einen schönen Übergang der beiden Ausstellungsorte. Und ja, es gibt auch eine Schattenseite. Schuppentiere gehören zu den am meisten gewilderten Tieren weltweit.

Verweise auf die Fragilität der Ökologie ziehen sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung und so hallen die Worte der Künstlerin nach. Im Plastikkügelchen-Meer von „Birthing Pool“ sitzend weist Alice Channer zum Fenster hinaus auf die idyllisch anmutende Appenzeller Landschaft und meint: „Even if the world looks perfect – it is not! Art can help us to see that“.   

— Dieser Text erschien in längerer Version zuerst im Kulturmagazin Saiten.