Jan St. Werner, Space Synthesis: In Echtzeit mit dem Klang schwimmen

St. Werner
Jan St. Werner, Cover der Vinyl-LP mit der KompositionSpace Synthesis, 2023
Review > Baden-Baden > Staatliche Kunsthalle Baden-Baden
26. Juni 2023
Text: Dietrich Roeschmann

Jan St. Werner: Space Synthesis.
Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, Lichtentaler Allee 8a, Baden-Baden.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 2. Juli 2023.

St. Werner
Jan St. Werner, Space Synthesis, 2023, Ausstellungsansicht Kunsthalle Baden-Baden, Foto: Nick Ash, © Staatliche Kunsthalle Baden-Baden
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Jan St. Werner, Encourage the Stream, 2021, Produktionsstill, Foto: Joseph Kadow
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Jan St. Werner, Space Synthesis, 2023, Ausstellungsansicht Kunsthalle Baden-Baden, Foto: Nick Ash, © Staatliche Kunsthalle Baden-Baden

Eine Stunde ist viel Zeit. Zeit genug zum Beispiel, um in Baden-Baden einmal die Lichtentaler Allee heraufzuspazieren, vorbei etwa an Touristen mit Selfiesticks vor einer sehr alten, sehr gebrechlichen Hängebuche, die von Dutzenden von Metallkrücken gestützt wird und dabei ein bisschen aussieht wie eine morbide Gartenfantasie von Salvador Dalí. Dazu plätschert nebenan die Oos, Baden-Badens Hausflüsschen aus dem Nordschwarzwald, das gurgelnd und glucksend im schnurgeraden Bett durch die Kurstadt springt wie ein aufgedrehtes Kind im Sonntagskleid. Vor zwei Sommern stand der Künstler und Komponist Jan St. Werner hier in Gummistiefeln im Bach, installierte ein Stativ mit Mikrofon knapp über der Wasseroberfläche und verstärkte das Gluckern des Flusses durch Lautsprecher, die er in die Bäume des Parks hängte. „Encourage the Stream“ hieß die Soundarbeit, die einen damals so unvermittelt wie unweigerlich in die Frequenzen des Flusses eintauchen ließ und Klang plötzlich zu einer körperlichen Erfahrung des Verschmelzens mit der Umgebung machte. Eine Dokumentation des Projekts ist derzeit mit anderen Videos in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden zu sehen, in einem Nebenraum zur ersten Soloschau von Jan St. Werner, der seit Mitte der 1990er Jahre mit Andi Thoma unter dem Namen Mouse on Mars elektronische Musik macht und in seinen künstlerischen Arbeiten die Wechselwirkungen zwischen Raum, Klang, Bewegung und Material untersucht.  

Ein Frage drängt sich dabei schnell auf: Wie lässt sich das Phänomen Klang in seiner Flüchtigkeit erfahrbar machen? Muss in einer solchen Ausstellung tatsächlich mehr zu sehen sein als in einer Gemäldeausstellung zu hören? Natürlich nicht. Momentan sind die Räume der Kunsthalle deshalb auf den ersten Blick ziemlich leer. Und jedes der wenigen Dinge, die sich dennoch in die neoklassizistische Architektur verirrt haben, hat eine klar definierte Funktion – als Element zur Schalllenkung, als Lichtquelle für abstrakte Schattenspiele, als rollbarer Hocker im Look von Josef Albers’ berühmten „Homages to the Square“ oder als Stromkabel, das im Oberlicht verschwindet wie eine Ranke, die zum Licht wächst, hungrig nach der Welt da draußen und sie so zugleich in den Raum holt. Das alles dominierende Weiß und Grau von Wand und Boden in unterschiedlichen Verdunklungsgraden sorgt dabei für eine leicht entrückte Atmosphäre, die das Gefühl vermittelt, sich durch einen Schwarzweißfilm zu bewegen.

Eine Stunde ist viel Zeit, erst recht, wenn man sie in leeren Räumen verbringen soll – könnte man meinen. Doch schon nach wenigen Minuten entfaltet die 60-minütige Raumkomposition „Space Synthesis“, die Jan St. Werner für die Kunsthalle geschrieben hat, einen hypnotischen Sog. Ihren akustischen Ursprung hat sie in zwei supereleganten Klangmöbeln mit Dutzenden von Lautsprechern, die in maximaler räumlicher Entfernung voneinander so präzise platziert sind, dass die Schallwellen trotz moderater Lautstärke in die verborgensten Winkel des Hauses kriechen. Ein Soundteppich, aus sirrendem Fiepen gewoben und leicht wie Gaze, unterfüttert von dunkel schwebenden Glasklängen, an-und abschwellendem Rauschen oder einem rhythmischen Pochen aus der Ferne, diffus verschwommen in Wolken aus Hall. Wie Wasser bahnen sich die Frequenzen hier ihren Weg, fließen über Boden und Wände, umspülen Türrahmen und Einbauten, erobern die Architektur – und erzeugen damit eine Bewegung der Anwesenden, die eine Klangwahrnehmung über das bloße Hören hinaus überhaupt erst möglich macht. Auf subtile Weise lässt „Space Synthesis“ erleben, dass Klang immer schon Umgebung ist. Er kennt keine Grenzen und keinen endgültigen Zustand. Um ihm zu entgehen, muss man sich aktiv wehren, die Ohren zuhalten oder Kopfhörer aufsetzen, sonst sickert er einfach ins Ohr und ins Gehirn. „Klang ist Anarchie“, schreibt Jan St. Werner im Booklet zur Ausstellung, „er repräsentiert nichts, kann nicht besessen und nicht bewahrt werden. Wenn ein Klang einmal freigesetzt ist, gibt es keine Mittel, ihn zurückzuhalten“. Bleibt die Frage: Warum sollte man das wollen, wenn man wie in Baden-Baden mit ihm in Echtzeit schwimmen kann, um in ständiger Bewegung in immer neue Resonanzräume einzutauchen und dabei selbst durchlässig zu werden?