Widerständige Musen. Delphine Seyrig und die feministischen Videokollektive im Frankreich der 1970er und 1980er Jahre: Die Videokamera als Verbündete

Delphine Seyrig
Cathy Bernheim, Delphine Seyrig filmt „Où est-ce qu’on se mai ?“ während der Demonstration zum 1. Mai 1976 in Paris, Courtesy Cathy Bernheim, © Alexandra & Géronimo Roussopoulos
Review > Stuttgart > Württembergischer Kunstverein
24. April 2023
Text: Annette Hoffmann

Widerständige Musen. Delphine Seyrig und die feministischen Videokollektive im Frankreich der 1970er und 1980er Jahre.
Württembergischer Kunstverein, Schlossplatz 2, Stuttgart.
Dienstag, Donnerstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch 11.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 7. Mai 2023.
www.wkv-stuttgart.de

Delphine Seyrig
Carole Roussopoulos, Delphine Seyrig und Maria Schneider während der Tournee von „Sois belle et tais-toi !“, 1975, Courtesy Seyrig Archive, © Alexandra & Géronimo Roussopoulos
Delphine Seyrig
Carole Rossopoulos Delphine Seyrig und Maria Schneider während der Tournee von „Sois belle et tais-toi !“, 1975, Courtesy Seyrig Archive, © Alexandra & Géronimo Roussopoulos

Die Geschichte ist ziemlich wild. Und möglicherweise scheiterte der Film über Calamity Jane (1852-1903) nicht einmal an der Finanzierung, sondern an einer schier unentwirrbaren Verflechtung von Wahrheit und Fiktion. Als Delphine Seyrig (1932-1990) 1983 nach Billings reiste, um Leute zu treffen, die Calamity Janes vermeintliche Tochter noch gekannt hatten, gab es schon längst Filme über deren Mutter, die zu einem Mythos des Wilden Westens geworden war und Ende des 19. Jahrhunderts in Buffalo Bills Wild West Show auftrat. Calamity Jane verdingte sich als Postkutschenfahrerin, als Saloondame, als Krankenschwester und als Scout für die Armee, oft in Männerkleidung. Babette Mangolte hatte Seyrig in die USA begleitet und aus den verschiedenen Begegnungen ist 2020 dann doch noch ein Film entstanden, der von einer Recherche nach einem sehr speziellen weiblichen Identitätsentwurf erzählt.

„Calamity Jane & Delphine Seyrig. Eine Geschichte“ ist auch in der Ausstellung „Widerständige Musen. Delphine Seyrig und die feministischen Videokollektive im Frankreich der 1970er und 1980er Jahre“ zu sehen. Nach Stationen im Museo Reina Sofia in Barcelona und in der Kunsthalle Wien breiten sich nun in der weitläufigen Ausstellungshalle des Württembergischen Kunstvereins Archivmaterialien wie Typoskripte, Fotos und Storyboards aus. Hinzu kommt selbstredend das Videomaterial, auf dem die Schau eigentlich fußt. Manche der Filme sind für sich genommen abendfüllend. Der Film über die Suche nach Spuren von Calamity Jane knüpft unmittelbar an einen anderen an. 1976 hatte Seyrig mehr als zwanzig Schauspielerinnen in Frankreich und den USA nach ihren Arbeitsbedingungen und Rollenangeboten befragt. Die Nähe zur Gegenwart ist ernüchternd, nur dass heute zudem über sexuelle Übergriffe gesprochen wird. Der Film, so lautet eine Schlussfolgerung, ist eine Männerphantasie. Delphine Seyrig kannte sie. Sie hatte mit Alain Resnais und mit Rainer Werner Fassbinder gedreht, später arbeitete sie viel mit Regisseurinnen wie Chantal Akerman und Ulrike Ottinger zusammen. Zwei Kostüme aus Ottingers Filmen geben der Ausstellung zumindest etwas Diva-Appeal.

„Widerständige Musen. Delphine Seyrig und die feministischen Videokollektive im Frankreich der 1970er und 1980er Jahre“ eröffnet vor allem einen Zugang zu sehr viel Material des Kollektivs „Les Insoumuses“, das von Carole Roussopoulos, Ioana Wieder und Seyrig in den 1970er Jahren gegründet wurde. Das Kollektiv war ab 1982 eng mit dem Centre audiovisuel Simone de Beauvoir verbunden war, welches von den drei Aktivistinnen initiiert und von der französischen Philosophin unterstützt wurde. An diese erinnert das 1986 entstandene Video „Pour mémoire“, das Aufnahmen von Beauvoirs Begräbnis mit einem später entstandenen Film von den Bändern der Kränze vereint. Die Namen von Organisationen und einzelnen Persönlichkeiten evozieren die internationale Solidargemeinschaft von Feministinnen, die die widerständigen Musen schaffen wollten. Die Videokamera, die einerseits ohne Technikteam zu bedienen war, andererseits erlaubte, den Gefilmten eine Kontrolle über ihr Bild zu gewähren, war ihre Verbündete. Mit ihr klärten sie über selbst organisierte Abtreibungen in Paris auf, engagierten sich im Kampf um das Recht am eigenen Körper, für die Anerkennung von Sexarbeit sowie die Anti-Psychiatrie-Bewegung und gegen den Vietnamkrieg. Sie machten aber auch Risse deutlich innerhalb der feministischen Szene in Paris, in der die Zugehörigkeit zu Klasse oft mehr zählte als die Solidarität. Manchmal gelang der Schulterschluss über Differenzen, so greift das Video „SCUM Manifesto“ den gleichnamigen Text von Valerie Solanas auf, obwohl Delphine Seyrig das Attentat auf Andy Warhol verurteilte. Im Video diktiert sie den Text Carole Roussopoulos in die Schreibmaschine, die ihr gegenüber am Tisch sitzt. Roussopoulos unterbricht, um eine zu rauchen, im Hintergrund laufen im Fernsehen die Nachrichten, es ist die altbekannte Ereignisgeschichte, gemacht von Männern, die das Hintergrundrauschen abgibt.