Rimini Protokoll.
Kunstmuseum Solothurn, Werkhofstr. 30, Solothurn.
Dienstag bis Freitag 11.00 bis 17.00 Uhr, Samstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 30. April 2023.
www.kunstmuseum-so.ch
Was sich auf dem großen Tisch im Kunstmuseum Solothurn ausbreitet, ist nichts anderes als eine Gemeinschaft in Objekten. Die Strickjacke, der Ring, die Handbibliothek mit Walter Scott-Ausgaben stehen für ihre Besitzer und das, was ihnen wichtig ist im Leben. „100% Solothurn“ heißt die Arbeit, die Rimini Protokoll seit 2008 in verschiedenen Städten durchgeführt hat. Meist in Form einer höheren Mengenlehre auf der Bühne. Wer hat schon einmal in einer Fabrik gearbeitet, wer ernährt sich rein pflanzlich, so lauten die Fragen, die jeweils neue Gruppierungen auf der Bühne generieren. 100 Städtebewohnerinnen und –bewohner präsentieren das Gemeinwesen als Experten des Alltags, ausgewählt nach statistischen Kriterien und durch Kettenreaktionen. In Solothurn – schließlich befinden wir uns in einem Kunstmuseum – werden die Dinge präsentiert. Die Publikation dokumentiert die dazu gehörigen Lebensgeschichten.
Museen funktionieren nach anderen Regeln als Theater. Und wer einmal ein Stück des Autorenteams Helgard Haug (*1969), Stefan Kaegi (*1972) und Daniel Wetzel (*1969) gesehen hat, weiß, wie wichtig das Interagieren des Publikums ist. Rimini Protokoll choreografiert uns Zuschauer, indem wir durch Environments und Geschichten geschleust werden. Jeder trägt seinen Teil dazu bei, indem hier ein Cocktail zubereitet wird, dort jemandem in den Arbeitskittel geholfen wird. All das gehört zur Aufführung und treibt sie voran. Das Publikum ist eine Bürgerversammlung, die sich anhand von Expertenwissen eine Meinung bildet. Museen müssen ohne diese auf eine definierte Zeit begrenzte Kollektivbildung auskommen. Nicht jedes der Stücke und Projekte, die jetzt in Solothurn zu sehen sind, funktioniert gleich gut. Doch nach der Gründung im Jahr 2000 war ein solches Rekapitulieren der eigenen Arbeit in Form einer Ausstellung wohl einfach an der Zeit. Mal betreten wir wie in „Situation Rooms“ eine Art Projektarchiv. Über Monitore und die gezeigten Modelle und Requisiten bekommt man einen Einblick in die begehbare Theaterinstallation und in Arbeitswelten, die auf die eine oder andere Weise durch Waffen bestimmt sind. Sei es, dass ein Feinmechaniker an ihrer Produktion beteiligt ist, sei es, dass ein Chirurg im Rahmen eines Ärzte ohne Grenzen-Einsatzes versucht Kriegsopfern zu helfen. Ein anderes Mal setzen wir uns eine VR-Brille auf, auf der ein Gastmahl von Pieter Bruegel dargestellt ist, um in den Moloch der Lebensmittelproduktion geführt zu werden. Hier der Umschlagplatz für Fisch und Meeresfrüchte, dort eine riesige Schlachterei, in der Akkord gearbeitet wird und dann ist da noch die Verpackungsanlage für Kartoffelchips, wo Arbeiterinnen die immer gleichen Handbewegungen ausführen.
Der Ansatz von Rimini Protokoll ist, dass in Demokratien alle für alles verantwortlich sind und dass durch Beteiligung schlechtere Staatsformen verhindert werden können. Das mag an ihrer Schweizer Prägung liegen. Stücke von Rimini Protokoll enden nicht mit dem Verlassen des Saals, sie setzen sich in den Köpfen und womöglich in den Haltungen und Handlungen jener fort, die sie gesehen haben. Nicht selten führt es dazu, jene Widersprüche zu erkennen, in die wir alle verstrickt sind. In Solothurn ist auch „Temple du présent – Solo für einen Oktopus“ als Videoprojektion zu sehen. Das Stück wurde 2021 im Théâtre du Vidy in Lausanne aufgeführt. Experte für Oktopusse war ein Exemplar, das eigentlich für die Küche bestimmt war, Expertin für das Verhältnis des Menschen zum Tier war Nathalie Küttel. Sie arbeitet als Künstlerin und Tierpflegerin. Vier Monate ließ sie dem Kraken Zeit, sich an sie zu gewöhnen. Das Video, das oftmals überblendet ist und von populärwissenschaftlichen Kommentaren begleitet wurde, lässt etwas von der Neugierde und den Fähigkeiten des Tieres, sich an die Umgebung anzupassen, erahnen. Und nur zu gerne möchte man in seinen Bewegungen eine Reaktion auf die Hand der Performerin an der Glasscheibe sehen und dies als Ausdruck der besonderen Intelligenz des Tieres. Als ob es das Tier wäre, das ein Bedürfnis nach menschlicher Nähe hätte und nicht wir die Sehnsucht nach Nähe zur Natur – ungeachtet, wie wir Tiere halten und ausbeuten.