Street Life. Die Straße in der Kunst von Kirchner bis Streuli.
Wilhelm-Hack-Museum, Berliner Str. 23, Ludwigshafen.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 11.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 15. März 2023.
www.wilhelmhack.museum
Katalog im Hirmer Verlag, München 2022, 288 S., 39 Euro | ca. 71.90 Franken.
Wer in Städten spazieren geht, verliert sich. Die Flaneure des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die ihre Beobachtungen zu Literatur machen, die Situationisten, die in Gruppen durch Paris und andere Metropolen streunten, um sich die Stadt anzueignen, waren auf eine geborgene Weise in den Straßen verloren. Doch dann das: in Johns Smiths (*1952) Film „The Girl Chewing Gum“ erzählt eine männliche Stimme gottgleich, was in der nächsten Sekunde passieren wird. Ein Mann in einem weißen Arbeitsoverall wird stehen bleiben, sich umsehen, zurückgehen, um dann die Straße zu überqueren. Die Passanten, die an diesem ganz gewöhnlichen Tag des Jahres 1976 im Londoner Stadtteil Hackney ihrem Alltag nachgehen, erfüllen einen Plan, sie sind wie Schauspielerinnen und Schauspieler in einem Theaterstück, das keinen anderen Zweck erfüllt als ein solches Spiel zu sein. Das Gefühl der Desorientierung wird durch eine panoramatische Perspektive kompensiert.
Die ersten Arbeiten der Ausstellung „Street Life“ im Wilhelm-Hack-Museum führen in die expressionistisch perspektivisch verzerrten Straßenzüge der wachsenden Städte. Ludwig Meidner (1884-1966) etwa malt 1913 eine „Betrunkene Straße mit Selbstbildnis“. Nicht, dass man sich nicht auch in Dorfgasthöfen dem Rausch hingeben konnte, doch die Versuchungen der Städte waren noch einmal andere. Die Ludwigshafener Ausstellung, die ihren Titel dem Randy Crawford-Song „Streetlife“ entlehnt hat, zeigt Kirchners Kokotten, die Hoffnungen der Futuristen auf den Fortschritt und die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft in arm und reich sowie links und rechts. 1925 etwa stellt George Grosz (1893-1956) die „Straßenszene (Kurfürstendamm)“ dar, die auf engstem Platz einen Kriegsversehrten mit Kriegsgewinnlern und dem neuen Typus des blasierten Städtebewohners zusammenführt. Fotos aus diesem ersten Drittel des 20. Jahrhundert dokumentieren die Mietskasernen dieser Zeit mit ihren unzähligen Hinterhöfen, die Fabriken, den zunehmenden Verkehr und den Hedonismus des Nachtlebens.
„Street Life“ will einen panoramatischen Überblick mitsamt Hörstation mit Musik von Randy Crawford und Kraftwerk auf das Thema leisten, das geht mitunter zu Lasten der Tiefenschärfe. Zumal jeder Passant eine potentielle Geschichte ist. „Die Straße in der Kunst von Kirchner bis Streuli“ umfasst eben gut ein Jahrhundert, in denen sich die Gesellschaft immer wieder verändert hat. Das emanzipatorische Potential der Straße hat jedoch nicht an Attraktivität eingebüßt. Street Photographer wie etwa Helen Levitt (1913-2009) und Martha Cooper (*1943) haben Straßenszene eingefangen, in denen spielende Kinder soziale Rollen einüben, man sieht weiße und schwarze Kinder zusammen und wie in den heißen Sommern in New York die Hydranten zur Abkühlung geöffnet werden. Neben Kindern sind es Afroamerikaner, junge Frauen und Jugendliche, die sich in Nischen einrichten, um von dort aus ihren gesellschaftlichen Platz zu suchen. Bei Beat Streuli (*1957) finden sich Menschengruppen zu zufälligen Szenen zusammen, die so in jeder Metropole weltweit angetroffen werden könnten.
Die Gegenkultur bekommt in diesen Fotos viel Raum, sie ist bereits im anarchischen Spiel der Kinder angelegt und setzt sich in der Graffiti- und Breakdance-Szene fort. Vor allem mit dem Jahr 1968 wird die Gegenkultur politisch. Fotos dokumentieren die Studentenproteste in Paris. Einen Widerhall finden diese in Installationen von Bettina Pousttchi (*1971), die Absperrgitter zu einer Installation auftürmt und dazwischen zehn Monitore platziert. Die Schwarzweiß-Sequenzen zeigen die Beine von Polizisten, die durch die Uniformhosen und Stiefel alle gleich aussehen, was das Gefühl einer bedrohlichen Demonstration staatlicher Macht noch verstärkt. Arbeiten etwa von Edward Ruscha (*1937) oder auch Tatjana Doll (*1970) erzählen von den Auswegen, von Tankstellen, die Mobilität garantieren, von Autos und Straßen. Mit ein bisschen Glück führen sie einfach in die nächste Stadt.