Sisters and Brothers. 500 Jahre Geschwister in der Kunst.
Kunsthalle Tübingen, Philosophenweg 76, Tübingen.
Montag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 11.00 bis 19.00 Uhr.
Bis 16. April 2023.
www.kunsthalle-tuebingen.de
Die Ausstellung „Sisters and Brothers. 500 Jahre Geschwister in der Kunst“ beginnt mit Kain und Abel. Die gewalttätige Szene des italienischen Barockmalers Bartolomeo Manfredi hängt als wandgroße Reproduktion im ersten Raum, gleich darauf gibt es zum Thema noch einen Kupferstich nach Cornelis van Haarlem. Der Brudermord als warnendes Exempel. In Wirklichkeit sind Geschwisterbeziehungen heute zwar spannungsgeladen, aber wohl etwas prosaischer als im Alten Testament. Das zeigen die vielen Werke der Ausstellung aus dem 19. Jahrhundert und der Gegenwartskunst. Die Direktorin der Kunsthalle Tübingen Nicole Fritz verfolgt letztlich einen kulturwissenschaftlichen Ansatz: „Empirisch ist es so, dass dieses bürgerliche Geschwisterporträt auch zahlenmäßig einfach sehr präsent ist in der Kunstgeschichte – und auch in die Gegenwart hineinwirkt. Für mich ist das etwas, das heute noch nachwirkt und in seiner Prägekraft und symbolischen Kraft auch diskutiert werden sollte.“
Die Kinderbilder im größten Saal der Ausstellung sind nicht gerade spektakulär. Sie stammen etwa von Xaver Heuberger oder Leopold Kupelwieser. Aber sie zeigen, wie im 19. Jahrhundert das Kind nun auch vom Bürgertum zum Repräsentationsobjekt erhoben wird. Es hat selbstredend brav zu sein und die Geschwister zu mögen.
Der Franzose Eugène Carrière geht 1882 so weit, einen „Unschuldskuss“ zwischen liebenden Geschwistern zu malen. Während die trauernde Gertraud Rostosky 1913 ihre Schwester auf dem Totenbett zeigt. Zunehmend werden vom Bürgertum Märchen als Erziehungsmittel eingesetzt – Moritz von Schwind malt 1867 „die treue Schwester“ aus Grimms Märchen von den „Sieben Raben“.
In der Gegenwartskunst geht es dann unter Geschwistern erheblich heftiger zur Sache – die Problematik einer Konkurrenzbeziehung wird nun offenkundig. Wobei die klassische Moderne in der Ausstellung weitgehend fehlt – bis auf einige eher konventionelle Arbeiten von Otto Dix, August Macke und Emy Roeder, wo Kinder zwischen den Kriegen eine Art Schutzgemeinschaft bilden. Aber Cindy Sherman vervielfältigt sich 2016 nun selber – ironisch – zu einem popbunten Vierlings-Geschwisterreigen, und der britische Künstler Declan Clarke dreht einen Film über sich und seinen karrieretechnisch angepassten Banker-Bruder, dem er – scheinbar – hingebungsvoll die Hemden bügelt. Der Aktionskünstler Christian Jankowski probt mit Holzfiguren eine Familienaufstellung, und das Zwillingspaar Gert und Uwe Tobias zeigt das Kain und-Abel-Thema als riesigen bunten Holzschnitt – künstlerische Zusammenarbeit als Konfliktbewältigung.
Leider ist rein stilistisch ein roter Faden in der Ausstellung schwer zu finden. Immerhin: viele Arbeiten spiegeln Zeitgeschichte. So sind die beiden aufmüpfigen jungen Frauen in Vera Chytilovás Underground-Film von 1966 eher Schwestern im Geiste. Sie lassen sich von älteren Herren ausführen, nehmen sie aus und sind nicht gerade Vorbilder für den damals gewünschten realsozialistischen Lebenswandel. Die Britin Julie Hayward schafft es dann sogar, die innere Spannung einer Geschwisterbeziehung als abstrakte Skulptur darzustellen: abstrakte Formen, die einander stützen und gleichzeitig scheinbar herunterziehen.
Am Ende gibt es aber eine Arbeit, für die die ganze Ausstellung lohnt: der amerikanische Fotograf Nicholas Nixon nimmt seit 1975 jedes Jahr ein Bild der vier „Brown Sisters“ auf, eine von ihnen ist seine Frau. In der immer gleichen Aufstellung sehen wir den gnadenlosen biologischen Prozess des Älterwerdens. Wir wissen nichts über diese Frauen – aber wir sehen ihre Beziehungen untereinander: ein solidarisches Zusammenstehen, bisweilen sogar Zärtlichkeit. Diese Serie, die Pinakothek der Moderne hat sie übrigens angekauft, ist beste konzeptuelle Fotografie. Und, nebenbei, auch ein bisschen visuelle Psychoanalyse.