Matt Mullican – 50 Years of Work. Befragung der Wirklichkeiten

Matt Mullican, Mapping The World – 50 Years of Work, Ausstellungsansicht Kunsthalle St. Annen, Lübeck, 2022, Courtesy the artist, Foto: Fred Dott
Review > Lübeck > Kunsthalle St. Annen
21. Dezember 2022
Text: Julia Lucas

Matt Mullican – Mapping The World. 50 Years of Work.

Kunsthalle St. Annen,
St. Annen-Str. 15, Lübeck.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 8. Januar 2023.

www.kunsthalle-st-annen.de

Matt Mullican, Mapping The World – 50 Years of Work, Ausstellungsansicht Kunsthalle St. Annen, Lübeck, 2022, Courtesy the artist, Foto: Fred Dott
Matt Mullican, Mapping The World – 50 Years of Work, Ausstellungsansicht Kunsthalle St. Annen, Lübeck, 2022, Courtesy the artist, Foto: Fred Dott
Matt Mullican, Mapping The World – 50 Years of Work, Ausstellungsansicht Kunsthalle St. Annen, Lübeck, 2022, Courtesy the artist, Foto: Fred Dott

[—artline Nord] Die Ehrung für das Lebenswerk eines Künstlers ist immer eine große Sache. Im Fall von Matt Mullican nimmt die Sache jedoch kosmologische Züge an. Denn mit ihrem alle drei Jahre vergebenen Preis für Internationale Kunst ehrt die Possehl-Stiftung 2022 nicht nur das künstlerische Schaffen des US-amerikanischen Konzeptkünstlers (*1951), sondern eine ganz eigene ästhetische Gesamt-Sprache: „Das Subjektive wird durch die Farbe Rot repräsentiert. Dann gibt es die Sprache, die ist schwarz und weiß, die Künste und das Bewusstsein sind gelb. Dann gibt es Blau, das die „ungerahmte Welt“ darstellt, das Allgemeine: die Straße, Draußen, das Normale, etwas, das man „das wirkliche Leben“ nennen würde und die materielle Qualität der Elemente“.

Grundsätzlich, so Mullican, orientiere sich seine Arbeit an fünf Welten. „Sie ergeben zusammen die Gesamt-Kosmologie, die ich entwickelt habe.“ Mullican, der bis 2019 einen Lehrstuhl für zeitbezogene Medien an der HfBK in Hamburg innehatte, spricht gerne und ausführlich über seine Arbeit. Auszüge aus diesem ungewöhnlich spannenden Alphabet, das sich weitgehend gängigen Kunstkategorisierungen und Zuordnungen entzieht, sind im Rahmen der Preisträgerschau in der Lübecker Kunsthalle St. Annen zu sehen.

Die Ausstellung präsentiert eine große Werkschau über drei Etagen und ist in die Lebens- und Arbeitsphasen des Künstlers eingeteilt. Im Erdgeschoss startet man mit einzelnen abstrakten Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Eine Etage höher sind insgesamt 64 Bettlaken aufgespannt, die Mullican in den 1970er-Jahren bedruckt und bezeichnet hat: oft schwarz-weiße einzelne abstrakte Striche, auf anderen sind bunte Kreise zu sehen. Auf der obersten Etage ist eine großräumige Steinmetzarbeit aufgestellt, die mit Neonlichtern und Glas kombiniert ist. Im Kern zeigt sie Magnesiumplatten, die mit einer Auswahl aus einem historischen Wissenschaftsbuch belegt sind. Raumgreifend nimmt Mullican damit das heutige Informationsphänomen Wikipedia und seine selektive Verweisstruktur voraus und zeigt hier eine frappierende Kombinations­gabe von Werkstoffen.

Über eine Fülle diverser Materialien und Dokumentationen seiner Performances, bei denen sich der Künstler in eine Art Trance-Zustand begibt, versucht Mullican Ordnung in die verwirrende Gleichzeitigkeit der Welt zu bringen und diese nach eigener Vorstellung zu strukturieren. Als Vertreter der eher lose zu charakterisierenden Künstler:innenvereinigung „Picture Generations“ macht er ästhetisch vor kaum etwas halt. Als erste Generation, die mit alltäglichen Medien wie Funk, Film und Fernsehen aufgewachsen war, arbeitete man sich vom Ende der 1960er Jahre bis in die 1980er Jahre kritisch an dem Aufkommen und zunehmenden Einfluss der massenmedial erzeugten Bilder ab. Mit der im Inhalt gemeinsamen ästhetischen Praxis deutete man die Abkehr von der Moderne an. Mullicans Kunstwerke stehen dementsprechend im Geist der Postmoderne als Platzhalter für die Komplexität der aktuellen Welt und Realität.

Simultan hierzu bietet der Künstler, der heute zwischen seinen Lebenswelten New York und Berlin pendelt, mit seinen Arbeiten Millionen weiterer Zwischenwelten an. Innerhalb dieser wandert er umher oder verbindet diese und deutet mal vage, mal explizit auf diese oder jene hin. Unvollständigkeit und Abgeschlossenheit einer Arbeit, Sein oder Nichtsein – das ist bei Mullican die ästhetische Frage aller Fragen.

Dass diese anhaltende Befragung der Wirklichkeiten auch mit einem Spaßfaktor einhergeht, beweist er mit der Figur des Glen. Das kleine Strichmännchen, das immer wieder in seinen Arbeiten auftaucht und sogar eine Wand in St. Annen markiert hat, fungiert wie ein Link zwischen den Welten, fasst so, als wolle Mullican durch sein Alter Ego sich selbst und uns als Betrachte selbstvergewissernd sagen: ich war hier!