Auslese aus den Neuerscheinungen

Anna Haifisch, aus: The Artist – Ode an die Feder, 2022, Courtesy the artist und Reprodukt
Bücher
21. November 2022
Text: Dietrich Roeschmann

Anna Ehrenstein: Tools For Conviviality, Distanz Verlag, Berlin 2022, 34 Euro | ca. 46 Franken

Anna Ehrenstein ist bekannt für ihre Installationen aus 3-D-Textil-Prints und in Stahlgerüsten verspannten Glitch-Collagen auf Plexiglas, mit denen sie in atemberaubend greller Meme-Ästhetik auf der Grenze zwischen virtuellem und realem Raum balanciert. Für ihr Buchprojekt „Tools for Conviviality“ über Migra­tion in Zeiten globaler Mobilität arbeitete die Deutsch-Albanerin nun mit Kreativschaffenden und einem Fashion-Kollektiv aus Senegals Hauptstadt Dakar zusammen. Ihr Credo: „Freundschaft als Methode – und den Menschen das Gefühl vermitteln, zu Hause zu sein“.

Anna Haifisch: The Artist. Sammelausgabe, Reprodukt, Berlin 2022, 200 S., 29 Euro | ca. 43.90 Franken, und The Artist – Ode an die Feder, Reprodukt, Berlin 2022, 128 S., 24 Euro | ca. 37.90 Franken

Die ersten Episoden von „The Artist“ erschienen 2016 bei vice.com. Später dann ließ die Leipziger Zeichnerin Anna Haifisch ihren verspulten Helden voller Selbstzweifel und jeder Menge lustiger, absurder, kluger Gedanken in zwei Comic-Alben durch die Kunstwelt irren – inklusive Besuch der Art Basel Miami Beach. Mit Teil drei der Saga, der skurrilen Cartoon-Oper „Ode an die Feder“, ist die hinreißende Geschichte des Schnabelwesens, das sich ganz dem Motiv der Schlange verschrieben hat und so lange vom großen Durchbruch träumte, nun komplett. Den hat „The Artist“ inzwischen zwar geschafft, aber irgendwie fühlt sich die Welt aus der Perspektive des einsamen Stars auch nicht glücklicher an und er sehnt sich wieder zurück in die Erfolglosigkeit. 

Vivian Suter: Bonzo, Tintin & Nina, Hatje Cantz, Berlin 2021, 176 S., 50 Euro | ca. 72.90 Franken

Billiges Papier, dünn und ungebleicht, doppelt gefalzt und verleimt: Die grobe Haptik und der Werkbuchcharakter dieses Bildbandes über Vivian Suter passen gut zum Werk der Malerin. Ihre Bilder lässt sie gerne unter den Bäumen einer ehemaligen Kaffeeplantage in Guatemala trocknen, wo sie heute lebt. Manchmal regnet es auf die Leinwände, manchmal laufen die Hunde darüber – so geht das, seit Vivian Suter der Schweizer Kunstszene 1982 nach kurzer Karriere den Rücken kehrte und die Natur am Lago de Atitlán zu ihrem Atelier machte. Mehr als drei Jahrzehnte lang nahm dort niemand Notiz von ihrer wunderbar befreiten, ursprünglichen Malerei, die sie immer ungerahmt und oft frei in den Raum hängt – bis die documenta 14 Suters Werk ausführlich würdigte. 2021 folgte der Grand Prix Meret Oppenheim für ihr Lebenswerk und eine umfassende Retrospektive im Kunstmuseum Luzern. Wer sie verpasst hat, kann sich an diesem schönen Band trösten, der übrigens nach Suters Hunden benannt ist.

Insieme congiunti. Orte, Interventionen, Scheidegger & Spiess, Zürich 2022, 232 S., 35 Euro | ca. 39.90 Franken

Als im Sommer 2022 die Biennale Bregaglia eröffnete, tummelten sich in den schmalen Gassen von Vicosoprano plötzlich die Kunsttourist:innen. Der kleine Ort mit rund 500 Einwohnern ist die größte Siedlung im Bergell. Anna Vetsch und Bigna Guyer, Kuratorinnen der diesjährigen Biennale-Ausgabe, hatten zwölf Kunstschaffende eingeladen, sich mit der Geografie und Geschichte des Tals auseinanderzusetzen, mit seiner Infrastruktur und Erschließung, den Hexenprozessen im 18. Jahrhundert und dem Alltag in der Gegenwart. Die Fotostrecke, mit der die Publikation zur Ausstellung startet, präsentiert sich auf rund 80 Seiten als eine karge, von schönen Cyanotypien und grellbunten Installationsansichten durchsetzte Materialstudie über das Bergell: Stein und Fels, Moos und Gras, Wasser und Wolken – und viel Kunst. Weiter hinten im Buch meißelt die Rorschacher Autorin Anna Stern dann einen wunderbar schmallippigen Text zwischen die alpine Kulisse: „es gibt nichts mehr. es gibt nur noch das tal und das dorf im tal und den wald an den hängen und den himmel, der sich blau über alles spannt. es gibt nichts mehr“. Ergänzt wird diese kurzweilige Berg- und Kunstwanderung in Wort und Bild durch Texte zu den ausgestellten Arbeiten, einen Essay über Ortsspezifität in der Kunst und eine lesenswerte historische Studie zur Geschichte der Frauen im Bergell.

Cover Art, Galerie Stihl, Waiblingen 2022, Box mit zehn Leporellos à acht Seiten, 34,90 Euro, Bestellung unter

Rutherford Chang sammelt Schallplatten. Oder besser gesagt: Er sammelt eine Schallplatte. Wo immer er das „White Album“ der Beatles entdeckt, kauft er es. Mittlerweile umfasst seine Sammlung 3000 Exemplare, fabrikneu oder zerrissen, geklebt, vergilbt, mit Wein­flecken, Schrammen oder Kritzeleien. In der Waiblinger Galerie Stihl gehörte Changs Installation „We Buy White Albums“ zu den Highlights der Ausstellung „Cover Art“. Der Katalog zur Schau widmet der Arbeit des US-amerikanischen Konzeptkünstlers ein ganzes Kapitel – und erzählt nebenbei eine Designgeschichte weißer und schwarzer Pop-Alben von Prince bis Metallica aus dem Geist des Suprematismus. Weitere Kapitel dieser schönen Publikation, deren Bögen wie einzelne Schallplatten in einer LP-Box stecken, widmen sich in Essays, Interviews und Bildern einflussreichen Cover Designs von Künstler:innen wie Chicks on Speed, Peter Saville, Anton Corbijn, Klaus Voormann oder legendären Jazz-Labels wie Blue Note. Sammler:innenstück!

Yves Netzhammer: Convex Thought, Diaphanes, Zürich 2022, 512 S., 30 Euro | ca. 35 Franken

Die Spuren der Gedanken von Yves Netzhammer sind weiß. Schwerelos ziehen sie in seinem neuen Künstlerbuch „Convex Thoughts“ durch tiefschwarze Bildräume, entfädeln sich schlafwandlerisch zu surrealen Zeichnungen von Dingen und Wesen, die ständig in Bewegung scheinen zwischen den Begriffen, aus deren Umklammerung sie sich mit stillem Humor und einer bemerkenswert poetischen Gelenkigkeit herauswinden. Körperteile mutieren hier zu Werkzeugen, die sich in Rehe oder Fische verwandeln, aus denen Laub weht, das sich im nächs­ten Moment auflöst in diffuse Wolken aus Spaghettikrakeln, bereit, immer neuen Gedanken und Bildern zu folgen, Linie für Linie, Seite für Seite. Dieser Wachtraum auf schwarzem Papier ist das Pendant zu Netzhammers „Concave Thoughts“, einem dichten Strom von Digitalzeichnungen, den er 2017 über weißes Papier mäandern ließ. Der neue Band erscheint pünktlich zur Soloschau des Schweizer Medienkünstlers im Zürcher Museum Haus Konstruktiv (bis 15. Januar 2023).

Anouk Kruithof: Universal Tongue, Art Paper Editions, Brüssel 2021, 2008 S., 40 Euro | ca. 50 Franken

„Im Tanz lernen wir die Welt kennen“, sagt Anouk Kruithof. Die niederländische Fotografin ist besessen von Bewegung und Rhythmus als Ausdruck individueller und kollektiver kultureller Identität. Für ihr Ausstellungsprojekt „Universal Tongue“ sichtete sie im Internet zusammen mit einem 50-köpfigen Team knapp 9.000 Amateur-Tanzclips und montierte daraus eine hypnotisch flackernde Enzyklopädie der Styles und Moves in 1000 Videos, die derzeit im Museum Tinguely in Basel zu sehen ist. Das über 2000 Seiten dicke Buch zur 8-Kanal-Installation stellt jeden der Tänze kurz in Text und Bild vor. Everybody Dance Now!